Walden Ein Leben mit der Natur
und Kalkutta von meiner Quelle trinken. Ich bade morgens meinen Geist in der wunderbaren, kosmogonischen Philosophie der Bhagavadgita, seit deren Entstehen Götterjahre vergangen sind und im Vergleich zu der unsere moderne Welt mit ihrer Literatur schwach undflach erscheint. Und ich frage mich, ob diese Philosophie nicht auf einen früheren
Daseinszustand zurückgeführt werden muß, so weit entfernt sind ihre erhabenen Gedanken von unserer Vorstellung.
Ich lege das Buch aus der Hand und gehe an meine Quelle, um Wasser zu schöpfen, und siehe - ich begegne dort dem Dichter Brahmins, dem Priester Brahmas, Vischnus und Inclras, der auch heute noch in seinem Tempel am Ganges sitzt und im Veda liest oder mit seiner Brotrinde und dem Wasserkrug am Fuße eines Baumes haust. Ich begegne seinem Die ner, der kommt, um Wasser für seinen Herrn zu holen, und unsere
Gefäße reiben sich gleichsam aneinander im selben Brunnen.
Das reine Wasser des Waldensees ist mit dem heiligen Wasser des Ganges vermengt. Ein günstiger Wind trägt es an der sagenhaften Insel Atlantis und an den Hesperiden vorbei, an dem Periplus Hannos, vorüber an Ternato und Tidore und dem Persischen Golf, bis es in den tropischen Winden des Indischen Ozeans aufgeht und in Häfen landet, die Alexander nur dem Namen nach kannte.
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XVII.
Frühling
DasOffenlegen großer Flächen durch die Eisarbeiter führt gewöhnlich dazu, daß ein See früher abtaut; denn das Wasser, das der Wind bewegt, bringt das umliegende Eis auch bei kaltem Wetter zum Schmelzen. Doch diese Wirkung stellte sich in jenem Jahr beim Waldensee nicht ein, denn bald trug er anstelle des alten einen neuen dicken Rock. Dieser See taut nie so früh ab wie die anderen in der Gegend, weil er tiefer ist und keine Strömung ihn durchfließt, die das Eis aufweicht oder zum Schmelzen bringt. Meines Wissens taute er nie während des Winters ab, auch nicht in dem des Jahres 1852/53, welcher die Seen auf eine harte Probe stellte. Gewöhnlich taut er um den ersten April ab, eine Woche oder zehn Tage nach Flintsee und Fair-Haven, wobei er an der Nordseite und an den
seichteren Stellen, wo er zuerst gefroren war, zu schmelzen beginnt. Besser als irgendein anderes Gewässer in der Gegend zeigt er den tatsächlichen Fortschritt der Jahreszeiten an, ohne im geringsten von temporären Temperaturveränderungen
beeinflußt zu werden. Ein einige Tage währender Kälteeinbruch mag das Abtauen der anderen Seen erheblich verzögern,
während die Temperatur des Waldensees fast ununterbrochen ansteigt. Ein Thermometer, das ich am 6. März 1847 in die Mitte des Waldensees steckte, zeigte 0° C an, den
Gefrierpunkt; am Ufer ½° C . Am gleichen Tag betrug die Temperatur des Flintsees in der Mitte ½° C und zweihundert Fuß vom Ufer entfernt an einer seichten Stelle unter fußdickem Eis 2° C. Die Temperaturschwankung von fast zwei Grad
zwischen dem tiefen und dem flachen Wasser und seine
relative Seichtheit erklären, warum der Flintsee so viel früher abtaut als der Waldensee. Das Eis war zu dieser Zeit an seiner seichtesten Stelle um einige Zoll dünner als in der Mitte. Im tiefsten Winter dagegen war er in der Mitte am wärmsten und das Eis dort am dünnsten gewesen. So hat auch jeder, der einmal an den Ufern eines Sees im Wasser gewatet ist,
festgestellt, daß es in Ufernähe in drei bis vier Zoll Tiefe viel wärmer ist als etwas weiter draußen und im tiefen Wasser viel
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wärmer an der Oberfläche als in Bodennähe. Im Frühling wirkt sich der Einfluß der Sonne nicht nur durch die erhöhte
Temperatur von Luft und Erde aus, sondern ihre Wärme dringt auch durch fußdickes Eis. Im seichten Wasser wird sie vom Grund reflektiert, das Wasser erwärmt sich, und die Unterseite des Eises schmilzt, während die direkte Wärmestrahlung von oben wirkt. Das Eis wird uneben, und die darin
eingeschlossenen Luftblasen dehnen sich nach oben und nach unten aus, bis das Eis vollkommen durchlöchert ist und
schließlich in einem einzigen Frühlingsregen plötzlich
verschwindet. Wie Holz hat das Eis eine Maserung, und wenn es sich aufzulösen beginnt, wirkt es wie eine Honigwabe. Seine Waben liegen überall genau im rechten Winkel zur
Wasseroberfläche. Wo sich ein Stein oder ein Stück Holz in der Nähe der Oberfläche befindet, ist das Eis darüber durch die reflektierte Wärme viel dünner und oft ganz weggetaut. Ich habe gehört, daß in Cambridge bei dem Experiment, Wasser in einem seichten
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