Walden Ein Leben mit der Natur
Eisenbahn? Nicht wir fahren auf den Eisenbahnschienen; die Eisenbahn fährt auf uns. Habt ihr jemals darüber nachgedacht, was diese Schwellen sind, die unter der Eisenbahn liegen?
Jede Schwelle ist ein Mensch, ein Ire oder Yankee. Auf ihnen werden die Schienen verlegt, man bedeckt sie mit Sand, und die Waggons gleiten stoßfrei über sie hinweg. Sie müssen einiges aushaken, das ist sicher. Und alle paar Jahre werden sie ausgewechselt und von neuen ersetzt, die überrollt werden.
Während also einige das Glück haben, auf den Schienen zu fahren, haben andere das Pech, unter den Schienen
überfahren zu werden. Und wenn sie einmal über einen solchen Menschen fahren, der nicht still hält, eine außerplanmäßige
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Schwelle in der falschen Position, werden plötzlich alle Wagen angehalten, und es geht ein großes Geschrei los, als handle es sich um eine außerordentliche Ausnahme. Zu meiner
Genugtuung weiß ich, daß es für jeweils einen Abschnitt von fünf Meilen eines Männertrupps bedarf, um die Liegenden unten zu halten und das Bett der Schwellen einzuebenen, denn das sind Zeichen einer möglichen Auflehnung.
Warum leben wir in solcher Hast, mit solcher Vergeudung von Leben? Wir glauben, Hungers zu sterben, bevor wir hungrig sind. Es heißt, »ein Stich zur rechten Zeit erspart neun andere«
- also werden lieber gleich tausend Stiche gemacht, um neun für den nächsten Tag zu ersparen. Und unsere Arbeit? Wir haben keine, die von Wichtigkeit wäre. Wir haben den Veitstanz und können den Kopf nicht stillhalten. Wenn ich nur ein paarmal die Glocke unserer Pfarrkirche zöge, als ob irgendwo Feuer ausgebrochen sei, ich glaube, es gäbe kaum einen Farmer, der nicht trotz aller dringlichen Arbeiten, mit denen er sich noch am Morgen entschuldigt hat, noch einen Jungen oder eine Frau, die nicht sofort alles liegen- und stehenließen und hinliefen.
Und das nicht, um ein Haus vor den Flammen zu retten,
sondern, wenn wir ganz aufrichtig sein wollen, um es brennen zu sehen, wenn es schon brennen muß, und wir selbst, bitte sehr, das Feuer nicht gelegt haben; oder um zuzusehen, wie es gelöscht wird, und vielleicht Hand anzulegen, wenn es denn anständig gemacht wird; ja, sogar bei der Pfarrkirche. Es gibt kaum einen Menschen, der nicht nach einem halbstündigen Mittagsschlaf den Kopf he ben und fragen würde: »Was gibt es Neues?« Als hätten alle übrigen für ihn Wache gehalten.
Manche wollen alle halbe Stunde geweckt werden, zweifellos aus keinem anderen Grund; und dann, wie zur Vergeltung, erzählen sie, was sie geträumt haben. Nach einer gut
durchschlafenen Nacht sind
die Neuigkeiten ebenso
unentbehrlich wie das Frühstück. »Bitte, laßt mich doch irgend wissen, was irgendeinem irgendwo in dieser Welt geschah!«
Und bei Kaffee und Brötchen liest er dann, daß einem anderen morgens am Wachito River die Augen ausgestochen wurden, ohne sich im Traum einfallen zu lassen, daß er sich
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währenddessen in dem dunklen unergründlichen Mammutkäfig dieser Welt befindet und selbst nur ein rudimentäres Auge besitzt.
Ich meinesteils könnte leicht ohne die Post auskommen. Ich finde, daß nur sehr wenige wichtige Verbindungen durch sie hergestellt werden. Strenggenommen erhielt ich nicht mehr als ein oder zwei Briefe im Leben, die das Porto wert waren. (Das schrieb ich schon vor Jahren.) Die Briefpost ist, allgemein gesehen, eine Einrichtung, durch die man einem Menschen für seine Gedanken allen Ernstes den Groschen gibt, den man ihm so oft unbeschadet im Scherz anbietet. Und ich bin sicher, daß ich noch nie etwas in einer Zeitung las, das der Erinnerung wert gewesen wäre. Wenn wir einmal von einem Mann, der beraubt, ermordet oder zufällig getötet wurde, lesen, einmal von einem Häuserbrand, einem Schiffsunglück, einer Dampferexplosion, von einer Kuh, die von der Western Railroad überfahren wurde, dem Tod eines tollwütigen Hundes, einem
Heuschreckenschwarm im Winter - dann brauchen wir so etwas nie wieder zu lesen. Einmal genügt. Hat man eine Sache
einmal im Prinzip kennengelernt, warum sollte man sich dann für ihre zahllosen Wiederholungen und Abarten interessieren?
Ein Philosoph wird alle sogenannten Neuigkeiten als Geschwätz betrachten und diejenigen, die sie herausgeben und lesen, als alte Kaffeetanten. Vor kurzem gab es, wie ich hörte, wegen der letzten Nachrichten aus dem Ausland einen
derartigen Ansturm auf eins der Büros, daß durch den Druck mehrere große
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