Walden Ein Leben mit der Natur
halten, wenn dessen Herden immer in höhere Regionen wandern als seine Gedanken?
Jeder Morgen war eine freundliche Einladung, mein Leben so einfach, ja ich möchte sagen, so unschuldig wie die Natur selbst zu gestalten. Ich war ein ebenso aufrichtiger Anbeter Auroras wie die Griechen. Ich stand sehr früh auf und badete im See. Das war eine religiöse Übung und eine meiner besten Handlungen. Es heißt, in der Badewanne des Königs Tsching-Tschang sei folgende Inschrift eingemeißelt gewesen:
»Erneuere dich vollständig jeden Tag; tue es immer wieder, für alle Zeit.« Ich kann das verstehen. Der Morgen versetzt uns in heroische Zeiten zurück. Das feine Summen einer Mücke, die in der ersten Dämmerung, wenn Tür und Fenster offenstanden,
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ihren unsichtbaren, unerforschlichen Weg durch mein Zimmer nahm, ergriff mich genauso wie jede Ruhmesfanfare. Es war ein homerisches Requiem; eine Iliade, eine Odyssee der Luft, die ihre eigenen Irrfahrten, ihren eigenen Groll besang. Es hatte etwas Kosmisches; die ständige Verkündigung der
immerwährenden Lebenskraft und Fruchtbarkeit der Welt. Der Morgen ist die Stunde des Erwachens, die bedeutungsvollste Zeit des Tages, in der wir am wenigsten schlafbedürftig sind, in der zumindest eine Stunde lang ein Teil von uns wach ist, der alle übrige Tages- und Nachtzeit schlummert. Es ist wenig von einem Tag zu erwarten - wenn er dann überhaupt »Tag«
genannt werden kann -, an dem wir nicht von unserem eigenen höheren Ich geweckt werden, sondern vom mechanischen
Rütteln eines Dieners; nicht von den eigenen
wiedererstandenen Kräften und Bestrebungen aus dem Innern heraus, begleitet von den Schwingungen himmlischer Klänge -
statt von Fabrikglocken - und einem Wohlgeruch, der die Luft erfüllt; erweckt zu einem höheren Leben als jenem, in dem wir eingeschlafen waren. So würde die Dunkelheit Früchte tragen und sich als gut erweisen, nicht weniger gut als das Licht. Der Mensch, der nicht glaubt, daß jeder Tag eine Stunde der Morgenröte enthält, früher und heiliger als die, die er bereits entweiht hat, ist am Leben verzweifelt und bewegt sich auf absteigenden dunkelnden Wegen. Nach einer zeitweisen
Unterbrechung des Sinnenlebens erwacht die Seele des
Menschen, oder besser ihre Organe, täglich neu gestärkt, und sein höheres Ich ist von neuem bestrebt, seinem Leben einen so edlen Inhalt wie möglich zu geben. Alle großen Dinge, möchte ich sagen, vollziehen sich am Morgen, in einer
morgendlichen Atmosphäre. In den Veden heißt es: »Alle
Geisteskräfte erwachen mit dem Morgen.« Dichtung, Kunst und die schönsten, denkwürdigsten Handlungen des Menschen
werden in einer solchen Stunde geboren. Alle Dichter und Helden sind gleich Memnon Kinder der Aurora, ihr Lied erklingt bei Sonnenaufgang. Und für den, dessen elastische, lebhafte Gedanken mit der Sonne Schritt halten, ist der Tag ein
immerwährender Morgen, unabhängig vom Stundenschlag,
vom Tun und Gehaben der Menschen. Morgen ist, wenn ich
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wach bin, wenn es in mir zu dämmern beginnt. Jedwede
moralische Reform ist das Bestreben, den Schlaf
abzuschütteln. Wie sonst könnten die Menschen solch
armselige Rechenschaft von ihren Tagen geben, wenn sie nicht ausgeschlafen hätten? So schlechte Rechner sind sie nicht.
Wären sie nicht von Schläfrigkeit befangen gewesen, dann hätten sie etwas ausgerichtet. Für körperliche Arbeit sind Millionen wach genug. Doch nur einer aus einer Million ist genügend wach für eine wirksame geistige Tätigkeit, nur einer unter hundert Millionen für ein poetisches oder göttliches Leben. Wach sein heißt leben. Ich bin noch nie einem
Menschen begegnet, der völlig wach gewesen wäre. Wie hätte ich ihm sonst ins Antlitz schauen können?
Wir müssen lernen, wieder zu erwachen und wach zu bleiben.
Nicht auf mechanischem Wege, sondern durch ein ständiges Erwarten der Morgendämmerung, die uns auch in unserem
tiefsten Schlaf nicht verläßt. Ich weiß nichts, das ermutigender wäre als die Fähigkeit des Menschen, sein Leben durch
bewußtes Bemühen auf eine höhere Stufe zu bringen. Es ist schon etwas, fähig zu sein, ein Bild zu malen oder eine Statue zu meißeln und auf diese Weise einigen Dingen Schönheit zu verleihen. Doch es ist noch weitaus rühmlicher, die Atmosphäre selbst zu gestalten, das Medium, durch das wir die Welt betrachten; und dazu sind wir geistig und sittlich imstande. Die Beschaffenheit des Tages zu beeinflussen, das ist die
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