Walden Ein Leben mit der Natur
steigenden Nebelschleier. Hier will ich zu schürfen beginnen.
III.
Lesen
Mit ein wenig mehr Überlegung in der Wahl ihrer
Beschäftigungen könnten alle Menschen in der Hauptsache Beobachter und Lernende werden, denn ihr Wesen und ihre Bestimmung interessiert sicherlich alle in gleicher Weise.
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Sterblich sind wir, was die Ansammlung von Besitz für uns und unsere Nachkommenschaft betrifft, die Gründung eines Staates oder einer Familie, ja sogar wenn wir uns Ruhm erwerben wollen; im Umgang mit der Wahrheit aber sind wir unsterblich und brauchen weder Wechselfälle noch Unfälle zu fürchten.
Einer der ältesten ägyptischen oder indischen Philosophen hat einst den Schleier der Gottheit ein wenig gelüftet, und noch immer verharrt das wehende Gewand in der erhobenen
Stellung. Nichts von ihrem frischen Glanz ist verlorengegangen, denn es war ich in ihm, der damals die Kühnheit besaß, und es ist er in mir, der heute den Anblick wiedersieht. Kein Staub hat sich auf jenes Gewand gesetzt, keine Zeit ist seit seiner Enthüllung vergangen. Jene Zeit, die wir veredeln, die sich veredeln läßt, ist weder Vergangenheit, Gegenwart noch
Zukunft.
Meine Wohnstatt war nicht nur zum Denken, sondern auch zu ernster Lektüre besser geeignet als jede Universität. Obzwar ich mich weitab von unserer gewöhnlichen Leihbibliothek befand, geriet ich immer mehr unter den Einfluß jener Bücher, die um die ganze Welt gegangen sind; deren Inhalt anfangs auf Rinde geschrieben wurde und die jetzt nur noch von Zeit zu Zeit auf Papier nachgedruckt werden. »Als ich mich niederließ, um die Sphäre der geistigen Welt zu durchei len«, sagt der Dichter Mir Kamar Uddin Mast, »verhalfen mir die Bücher dazu. Die Trunkenheit durch ein einziges Glas Wein, ich habe sie kennengelernt, als ich mich an ihren geheimen Lehren
berauschte.« Ich hatte den ganzen Sommer hindurch Homers Ilias auf meinem Tisch liegen, obwohl ich nur hin und wieder darin blätterte. Ein längeres Studium darin war mir, da ich mein Haus fertigstellen und daneben meine Bohnen anbauen mußte, unmöglich. Doch ich tröstete mich mit der Aussicht, sie später zu lesen. In meinen Arbeitspausen las ich ein oder zwei seichte Reisebücher, bis ich mich eines Tages dieser Beschäftigung schämte und mich fragte, wo denn ich eigentlich lebte.
Der Student kann ruhig Homer und Aischylos auf griechisch lesen, ohne leichtsinnige Zeitvergeudung befürchten zu
müssen, denn das schließt gewissermaßen mit ein, daß er
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ihren Helden nacheifert und ihrem Studium Morgenstunden weiht. Bücher aus heroischen Zeiten werden, auch wenn sie in unserer Muttersprache gedruckt sind, stets in einer Sprache reden, die tot ist für degenerierte Zeiten. Mühsam müssen wir erst die Bedeutung jedes Wortes, jeder Zeile erarbeiten und sind gezwungen, aus unserem eigenen Vorrat an Weisheit, Tapferkeit und Großmut zu schöpfen, um einen tieferen Sinn in sie hineinzulegen, als der gewöhnliche Sprachgebrauch es erlaubt. Das produktive, billige Druckverfahren unserer Zeit hat uns mit all seinen Übersetzungen die heroischen Dichter des Altertums nicht nähergebracht. Sie sind sich in ihrer
Einzigartigkeit gleichgeblieben. Und die Sprache, in der sie geschrieben sind, mutet so gewaltig und ungewöhnlich an wie je. Es lohnt sich, Jugendtage und wertvolle Stunden darauf zu verwenden, von einer alten Sprache wenigstens einige Worte zu erlernen, die über Gemeinplätze des Straßenjargons
hinausragen und immer Ansporn zu neuen Deutungen geben.
Es ist nicht vergebens, wenn der Farmer die wenigen
lateinischen Worte, die er kennt, im Ge dächtnis behält und sich immer wieder vorsagt. Die Leute reden zuweilen davon, daß das Studium der Klassiker künftig moderneren und
praktischeren Studien Platz machen werde. Der
unternehmende Student aber wird immer die Klassiker
studieren, ganz gleich, in welcher Sprache sie geschrieben und wie alt sie sind. Denn was sind die Klassiker anderes als die Überlieferung des edelsten Gedankenguts der Menschheit? Sie sind die einzigen Orakel, die nicht in Verfall gerieten, und sie geben solche Antwort, wie Delphi und Dodoma sie niemals zu geben hatten. Ebensogut könnten wir darauf verzichten, die Natur zu studieren, weil sie alt ist. Richtig lesen, das heißt, die richtigen Bücher im richtigen Sinne lesen, ist eine
ausgezeichnete Übung, die an den Leser höhere
Anforderungen stellt als so manche andere, die gerade gang und gäbe ist. Es erfordert
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