Walden Ein Leben mit der Natur
Gesellschaft gefunden hat, wird sich naturgemäß jenen höheren, doch weit unzugänglicheren
Kreisen des Geistes und der Künstler zuwenden. Der
Unvollkommenheit seiner Bildung und der Nichtigkeit und
-1 0 0 -
Unzulänglichkeit seiner Reichtümer schmerzlich bewußt
geworden, wird er seinen gesunden Menschenverstand
schließlich darauf verwenden, wenigstens seinen Kindern die geistige Ausbildung zu sichern, deren Mangel er selbst so lebhaft empfindet. So wird er zum Gründer einer Familie.
Die nie lernten, die alten Klassiker in der Sprache zu lesen, in der sie geschrieben wurden, verfügen zwangsläufig über eine sehr eingeschränkte Kenntnis der Menschheitsgeschichte; denn bemerkenswert ist, daß sie nie in eine moderne Sprache übertragen wurden, außer man betrachtet unsere Zivilisation selbst schon als eine solche Übertragung. Homer wurde bis heute nicht in englischer Sprache gedruckt, und auch Aischylos oder Virgil nicht - Autoren, deren Werke fast so vollendet, so gewichtig und so schön sind wie der Morgen selbst. Spätere Dichter konnten, ungeachtet ihrer Gaben, den Alten an
künstlerischer Schönheit und Vollendung und an dem
lebenslangen heroischen Bemühen um die Literatur kaum das Wasser reichen. Nur die sprechen davon, die Klassiker zu vergessen, die sie niemals kannten. Es wird dann noch früh genug sein, sie zu vergessen, wenn wir über so viel Geist und Bildung verfügen, daß wir sie schätzen und verstehen. Das wird eine wahrhaft köstliche Zeit sein, wenn die Reliquien, die wir Klassiker nennen, und die noch älteren, aber weniger
bekannten heiligen Schriften der Völker zusammengekommen sind, wenn die Vatikanischen Konzilien gefüllt sind mit Veden und Zend-Avesten und Bibeln, mit Homer und Dante und
Shakespeare, und alle Jahrhunderte fortlaufend das Forum der Welt mit ihren Trophäen schmücken. Von einem solchen Turm aus dürften wir vielleicht hoffen, den Himmel zu erreichen.
Die Werke der großen Dichter sind von der Menschheit noch nicht gelesen worden, denn nur große Dichter können sie wirklich lesen. Sie sind höchstens so gelesen worden, wie die Masse die Sterne liest, in astrologischem, aber nicht in astronomischem Sinne. Die meisten haben lesen gelernt, um ihren armseligen Zwecken Genüge zu tun, so wie sie rechnen gelernt haben, um ihre Bücher zu führen und nicht übers Ohr gehauen zu werden. Vom Lesen als einer höheren geistigen
-1 0 1 -
Übung aber verstehen sie nur wenig oder nichts. Und doch heißt nur das in wahrem Sinne lesen; und nicht das, was uns angenehm einlullt, während unsere besseren Fähigkeiten dem Schlummer überlassen bleiben, sondern das, wozu wir uns auf die Zehen stellen müssen und unsere wachsten und hellsten Stunden benötigen.
Ich glaube, daß wir, wenn wir die Buchstaben gelernt haben, nur das Beste der Literatur lesen sollten, und nicht nur unaufhörlich unser »Abc« und einsilbige Wörter wiederholen, für immer in der Grundschule, auf der ersten und untersten Stufe unseres Lebens. Die meisten Menschen geben sich damit zufrieden, nur ein gutes Buch zu lesen oder zuzuhören, wenn ihnen daraus vorgelesen wird: die Bibel; und vielleicht überzeugt sie dessen Weisheit auch. Den Rest des Lebens vegetieren sie dahin und vergeuden ihre Fähigkeiten mit sogenannter leichter Kost. In unserer Leihbücherei gibt es ein Werk in mehreren Bänden mit dem Titel Little Reading, von dem ich dachte, er beziehe sich auf die Stadt gleichen Namens, in der ich noch nicht gewesen bin. Manche Menschen haben einen Pferdemagen (wie auch die Strauße und die Kormo-rane), mit dem sie alles mögliche verdauen, selbst nach einem reichlichen Mahl mit Fleisch und Gemüse, denn sie können es nicht haben, wenn etwas verdirbt. Wenn andere die Maschinen sind, die dieses Futter herstellen, sind sie die Maschinen, die es lesen. Sie lesen das neuntausendste Märchen von Zebulon und Sephronia, die liebten, wie nie zuvor geliebt wurde, doch der Weg ihrer wahren Liebe verlief nicht glatt - sie lief und strauchelte, rappelte sich hoch und schleppte sich weiter! Sie lesen, wie ein armer Unglücklicher den Kirchturm bestieg, der lieber im Glockenstuhl haltgemacht hätte; und nachdem er ihn unnötigerweise so weit gebracht hat, läutet der glückliche Autor die Glocken, um die ganze Welt zusammenzurufen, um zu
hören, - o je! - wie er wieder herunterkam! Meinesteils denke ich, man hätte all die ehrgeizigen Helden der gesamten
Romanschriftstellern in menschliche
Weitere Kostenlose Bücher