Walden Ein Leben mit der Natur
Training wie das des Athleten und die Hingabe fast eines ganzen Lebens. Bücher wollen mit
derselben Aufmerksamkeit und Aufnahmebereitschaft gelesen werden, mit der sie geschrieben sind. Es genügt nicht einmal, die Sprache, in der sie verfaßt sind, zu sprechen, denn
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zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache, der gehörten und der gelesenen, besteht ein erheblicher Unterschied. Die eine ist flüchtig, ein bloßes Äußerungs- und Verständigungsmittel, beinahe in tierischem Sinne, die wir wie die Tiere unbewußt von unseren Müttern lernen. Die andere ist die Reife und Frucht jener. Wenn jene unsere Muttersprache ist, dann ist diese unsere Vatersprache, eine zurückhaltende, gewählte Ausdrucksweise, zu bedeutsam für das Gehör, in der zu sprechen wir erst neu geboren werden müssen. Die
Menschenmengen, die im Mittelalter die griechischen und lateinischen Idiome lediglich sprachen, hatten durch das bloße Geburtsrecht noch lange keinen Anspruch darauf, die großen Werke dieser Sprachen auch zu lesen; denn sie waren nicht in dem Griechisch oder Latein geschrieben, welches sie kannten, sondern in der gewählten Sprache der Literatur. Sie hatten Griechenlands und Roms edlere Dialekte nicht erlernt, und so war der reine Stoff, auf dem sie geschrieben waren, altes Papier für das Volk, das statt dessen die billige zeitgenössische Literatur vorzog. Als aber mehrere europäische Nationen selbst eigene, wenn auch grobe Schreibsprachen herausgebildet
hatten, gerade ausreichend für die Zwecke der beginnenden Literaturen, da erst lebte die Gelehrsamkeit wieder auf, und aus der Distanz konnten die Gelehrten die Schätze der Antike erfassen. Was die römischen und griechischen Massen nicht hören konnten, begannen nach dem Verlauf von Jahrhunderten einige Gelehrte zu lesen, und nur wenige lesen es noch heute.
Wie sehr wir auch die gelegentlichen Anwandlungen der
Beredsamkeit bei einem Redner bewundern, so sind doch die edelsten geschriebenen Worte für gewöhnlich so weit von der flüchtigen gesprochenen Sprache entfernt wie das Himmelszelt mit seinen Sternen von den Wolken. Dort sind die Sterne, und wer kann, der mag sie lesen. Die Astronomen äußern sich unaufhörlich zu ihnen und beobachten sie. Sie sind nicht Schall und Rauch wie unsere täglichen Gespräche und unser
dampfender Atem. Was man auf dem Marktplatz Beredsamkeit nennt, stellt sich im Studierzimmer gewöhnlich als schlichte Rhetorik heraus. Der Redner überläßt sich der Eingebung eines
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flüchtigen Anlasses und spricht zur Masse, zu denen, die ihn hören können; der Schriftsteller aber, für den sein ganzes besonnenes Leben der Anlaß ist und der von Ort und Menge, die den Redner inspirieren, nur gestört würde, spricht zum Geist und zum Herzen der Menschheit, zu allen Menschen in allen Zeiten, die ihn verstehen können.
Kein Wunder, daß Alexander auf seinen Feldzügen in einer wertvollen Kassette immer die ›Ilias‹ mit sich führte. Ein geschriebenes Wort ist die kostbarste Reliquie. Kein anderes Kunstwerk ist uns so vertraut und zugleich allumfassend. Es ist das Kunstwerk, das dem Leben am nächsten steht. Es kann in alle Sprachen übersetzt und nicht nur gelesen, sondern
buchstäblich von allen Lippen geatmet werden - nicht nur auf Leinwand oder in Marmor dargestellt, sondern aus dem Atem des Lebens selbst geschnitten sein. Das Symbol des Gedanken eines antiken Menschen wird zur Sprache des modernen.
Zweitausend Sommer haben den Literaturdenkmälern der
Griechen wie ihrem Marmor nur eine reifere, herbstlich goldene Färbung verliehen, denn sie haben ihre heitere himmlische Atmosphäre in alle Länder getragen, um sie gegen den Zahn der Zeit zu schützen. Bücher sind der gesammelte Reichtum der Welt und das schönste Erbe von Generationen und
Völkern. Bücher, die ältesten und die besten, stehen also auf natürliche und rechtmäßige Weise auf dem Wandbrett einer jeden Hütte. Sie treten nicht in eigener Sache auf, doch solange sie den Leser aufklären und ihn bereichern, wird sein
Menschenverstand nicht auf sie verzichten wollen. Ihre Verfasser bilden eine natürliche, unwiderstehliche Aristokratie in jeder Gesellschaft und üben einen stärkeren Einfluß auf die Menschheit aus als Kaiser und Könige. Der ungebildete und oft skeptische Kaufmann, der sich durch seinen
Unternehmungsgeist und Fleiß die ersehnte Muße und
Unabhängigkeit geschaffen und Zutritt zu wohlhabenden
Kreisen der modernen
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