Walden Ein Leben mit der Natur
Ort, den er erst gegen Morgen erreichen mochte.
Ein Toter, der die Aussicht hat, zum Leben erweckt zu werden, wird nicht danach fragen, wann und wo das geschieht. Der Ort wird immer von unbeschreiblicher Schönheit für ihn sein.
Meistens räumen wir nur ungewöhnlichen, flüchtigen
Ereignissen Einfluß auf unser Leben ein. Tatsächlich aber bewirken sie nur Verwirrung und Unruhe. Allen Wesen am
nächsten ist die Kraft, die ihr Dasein formt. Unmittelbar neben uns vollziehen sich die ewigen Gesetze. Am nächsten steht uns nicht der Meister, den wir dingen und mit dem wir uns recht gern unterhalten, sondern der, dessen Werk wir selber sind.
»Wie weitreichend und tiefbegründet ist der Einfluß der verborgenen Kräfte des Himmels und der Erde!«
»Wir trachten danach, sie wahrzunehmen, doch sehen wir sie nicht; wir trachten danach, sie zu hören, doch hören wir sie nicht; eins mit dem Wesen der Dinge sind sie nicht von ihnen zu trennen.«
»Sie bewegen die Menschen des ganzen Universums dazu,
ihre Herzen zu läutern und zu weihen und Festgewänder
anzulegen, um ihren Ahnen Opfergaben darzubieten. Es ist ein Meer ätherischer Kräfte. Sie sind überall, über uns, zu unserer Linken, zu unserer Rechten; sie umgeben uns auf allen
Seiten.«
Wir sind Gegenstand eines Experiments, das mich nicht wenig beschäftigt. Könnten wir unter diesen Umständen nicht auch eine Weile ohne das übliche Gewäsch auskommen und uns an unseren eigenen Gedanken erfreuen? Konfuzius sagt sehr
richtig: »Die Tugend bleibt keine verlassene Waise; sie muß notgedrungen Nachbarn haben.«
Durch das Denken können wir in gesundem Sinne Abstand von uns selbst nehmen. Durch eine bewußte Lenkung des Geistes können wir uns unserer Taten und deren Folgen enthalten; wir können alles, Gutes und Schlechtes, wie einen Strom an uns vorüberziehen lassen. Wir sind nicht ganz und gar der Natur verhaftet. Ich kann entweder Treibholz im Fluß sein oder Indra
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im Himmel, der darauf niedersieht. Ich mag einerseits von einer Theatervorstellung ergriffen sein, andererseits aber von einem wirklichen Geschehen, das mich weit mehr angeht, vielleicht nicht. Ich kenne mich nur als menschliches Einzelwesen, als Schauplatz sozusagen von Gedanken und Gefühlen; zugleich bin ich mir eines gewissen »Doppelwesens« bewußt, das es mir ermöglicht, ebenso mich selbst wie einen anderen
Menschen von ferne zu betrachten. Wie intensiv mein Erlebnis auch sein mag, ich bin mir der Gegen wart und der Kritik eines anderen Teiles in mir bewußt, eines Zuschauers, der nicht miterlebt, sondern zur Kenntnis nimmt. Und dieser Teil gehört genausowenig zu mir, wie er zu dir gehört. Ist das Schauspiel oder auch die Tragödie des Lebens einmal vorüber, geht der Zuschauer seines Weges. Für ihn war das Ganze nur eine Art Erfindung, ein Werk der Phantasie. Es ist dieses Doppelwesen in uns, das uns manchmal zu schlechten Nachbarn und
Freunden macht.
Ich finde es zuträglicher, den größeren Teil meiner Zeit allein zu verbringen. Auch die beste Gesellschaft wirkt bald ermüdend und störend. Ich bin gern allein. Nie fand ich einen geselligeren Gesellschafter als die Einsamkeit. Wir sind meistens einsamer, wenn wir uns unter Menschen begeben, als wenn wir in
unseren Zimmern bleiben. Ein Mensch, der denkt oder arbeitet, ist immer allein, mag er sich aufhalten, wo er will. Einsamkeit läßt sich nicht nach der Entfernung bemessen, die einen Menschen von seinen Freunden trennt. Ein wirklich fleißiger Student in einem der überfüllten Bienenstöcke von Cambridge ist ebenso einsam wie der Derwisch in der Wüste. Der
Landmann kann den ganzen Tag allein auf dem Feld oder im Wald arbeiten, hacken und graben, ohne Einsamkeit zu
verspüren, denn er ist beschäftigt. Am Abend aber, wenn er nach Hause kommt, mag er nicht allein mit seinen Gedanken in der Stube sein, sondern muß unter die Leute gehen. Nur so fühlt er sich wiederhergestellt, »entschädigt« für die Einsamkeit des Tages. Nun fragt er sich, wie ein Student die ganze Nacht und fast den ganzen Tag allein im Haus sitzen kann, ohne sich zu langweilen oder schwermütig zu werden. Er versteht nicht,
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daß der Student auf seinen Feldern arbeitet, auch wenn er im Haus ist, und in seinem Wald Holz hackt wie der Landmann in dem seinem und genauso wie dieser nach Erholung und
Gesellschaft trachtet, sei es auch in verdichteter Form.
Unsere Geselligkeit ist im allgemeinen zu billig. Wir treffen einander
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