Waldesruh
Morgenluft.
Wieso war sie da nicht schon viel früher draufgekommen? Schuldgefühle wegen des Umzugs, das war der wunde Punkt, dort musste sie den Hebel ansetzen. Und das war allemal nicht so mühsam wie ein Hungerstreik.
»Du meinst, wenn du vier Wochen nicht da bist, ist diese Marie nicht mehr deine Freundin?«, fragte ihr Vater.
Punkt für ihn, erkannte Emily, aber sie setzte gleich nach.
»Marie ist hier der einzige halbwegs intelligente Mensch, mit dem ich mich vernünftig unterhalten kann.«
»So, so.«
»Außer euch beiden natürlich«, fügte Emily rasch hinzu.
Na also, er lächelte.
»Zu zweit ist es nie langweilig, wir sind fast immer draußen, an der frischen Luft und wir beschäftigen uns nur sinnvoll!«
»Ach!«
Vorsicht, sie durfte nicht zu dick auftragen. »Letztes Mal auf dem Segelboot war mir sterbenslangweilig, weißt du nicht mehr?«
»Oh ja«, nickte ihr Vater und seufzte.
Tatsächlich hatte Emily während des letzten Törns gegen Ende so viel herumgenörgelt, dass sie mehr Häfen und Badebuchten angesteuert hatten, als geplant gewesen war.
»Du und Mama, ihr wollt doch sicher auch mal ungestört sein«, bohrte Emily weiter.
Ihr Vater begann schallend zu lachen. »Dass ich das erleben darf! Du machst dir Sorgen, dass wir ungestört sind?« Wieder lachte er.
Emily grinste. »Psst! Du weckst noch Mama!« Sie legte ihren Finger auf die Lippen. »Also, darf ich jetzt hierbleiben?«, hakte sie nach.
Ihr Vater stand auf. »Mäuschen, das kann ich nicht allein entscheiden.«
»Aber du würdest es erlauben.«
»Wenn, dann erlauben wir es – oder nicht«, antwortete ihr Vater, der das alte »Papa-hat’s-erlaubt«-Spiel durchschaute.
»Außerdem könnte ich dann den Ferien-Malkurs bei Frau Kramp mitmachen. Frau Kramp sagt, ich hätte Talent.«
»Ist ja gut«, winkte ihr Vater ab und gähnte. »Jetzt schlafen wir erst mal drüber, ja? Und bevor . . . ich sage ausdrücklich: bevor wir irgendetwas erlauben, sprechen wir erst einmal mit Maries Großmutter.«
»Was ist los mit euch? Angst vorm Zeugnis?« Janna stand vor der Hollywoodschaukel, in der Marie und Emily jede in einer Ecke saßen und Trübsal bliesen. Die Mädchen waren allein, Moritz war bei einem Klassenkameraden im Dorf zum Kindergeburtstag eingeladen.
»Quatsch«, antwortete Marie mürrisch. Morgen waren der letzte Schultag und Zeugnisausgabe. Aber daran dachte nun wirklich keine der beiden.
»Warum hängt euch dann die Kinnlade auf Kniehöhe?«
»Emily kann in den Ferien nicht zu uns kommen«, antwortete Marie.
»Haben es deine Eltern verboten?«
»Nein. Aber meine Mutter will mit eurer Großmutter sprechen.«
»Nur sprechen oder will sie sie auch sehen?«, wollte Janna wissen.
»Wo ist da der Unterschied?«, fragte Emily.
»Vielleicht kann ich euch helfen«, sagte Janna. »Allerdings sollten wir uns zunächst über den Preis einig werden.«
»Den Preis?«, fragte Marie misstrauisch. »Welchen Preis?«
»Was tut ihr für mich, für den Fall, dass ich das hinkriege mit Emilys Eltern?«
Marie überlegte. »Wir helfen dir, dein neues Zimmer zu streichen.«
»Das macht schon Axel.«
»Axel? Der kommt hierher?« Marie fuhr verärgert in die Höhe, die rostigen Federn der Schaukel quietschten.
»Warum nicht?«
»Hast du ihm etwa erzählt...«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe ihm gesagt, Oma sei im Krankenhaus. Aber irgendwie müssen wir schließlich die Farbe und das alles vom Baumarkt hierherkriegen, oder? Und Axel hat einen Führerschein. Er kann Omas Wagen fahren.«
»Das gefällt mir nicht«, sagte Marie. »Wie lange kennst du diesen Typen? Zwei Wochen, drei? Und wenn es aus ist – und das dauert bei dir doch höchstens vier Wochen –, dann lungert der nächste hier rum. Irgendwann kriegt einer was mit und verrät alles, spätestens dann, wenn du mit ihm Schluss gemacht hast, weil dir sein Kumpel doch besser gefällt.«
»Spiel dich nicht so auf«, fauchte Janna. »Du stellst mich hin, als wäre ich die größte Schlampe weit und breit!«
»Nicht weit und breit, das wäre zu viel der Ehre«, sagte Marie.
»Du glaubst wohl, nur du darfst Emily zu uns einladen, aber ich niemanden?«, entgegnete Janna giftig.
»Emily ist was anderes«, behauptete Marie. »Kerle sind unzuverlässig, dämlich und rachsüchtig.«
»Aber nützlich«, versetzte Janna. »Außerdem – was verstehst du schon davon?«
»Mehr als du. Weil ich im Unterschied zu dir bei klarem Verstand bin.«
»Janna, wie willst du denn meine
Weitere Kostenlose Bücher