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Waldesruh

Waldesruh

Titel: Waldesruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Mischke
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Krankheit ihrer Mutter zu fragen, obwohl sie das Thema brennend interessierte. Aber instinktiv spürte sie, dass Marie noch nicht so weit war, mit ihr darüber zu sprechen. Dazu war ihre Freundschaft noch zu frisch.
    »Was soll ich mit dem Foto da machen?«, fragte Emily. Es war ein einzelnes Foto, das ganz hinten in der Schublade in einem Briefumschlag gelegen hatte. Es war eine Farbaufnahme, die aber bereits einen Rotstich hatte. Es zeigte ein Gemälde, darauf war ein Mann in verschwommenen Blautönen zu sehen, von dem etwas Tristes ausging. Das Foto trug keinen Vermerk, auch die Rückseite war leer.
    Marie würdigte das Foto eines kurzen Blicks und zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«
    Emily ließ es in der Schublade liegen. Sie wollte Marie nicht noch weiter verstören. Was musste es für sie für ein Gefühl sein, die Besitztümer ihrer Oma zu sortieren? Sogar für Emily war es merkwürdig, die Maries Großmutter kaum gekannt hatte.
    Endlich waren sie fertig. Ehe Janna Besitzansprüche auf das Möbel anmelden konnte, schleppten sie das Nachtschränkchen in das Nachbarzimmer, das nach der Renovierung nur noch Marie gehören sollte. Emily würde es die nächsten Wochen mit ihrer Freundin teilen.
    »Ich bin froh, dass du da bist«, sagte Marie. »Ohne dich würde ich mich noch viel mehr mit Janna streiten.«
    »Warum streitet ihr eigentlich dauernd?«
    »Weil sie so grottendämlich ist.«
    Emily, die von Jannas Telefonaktion nachhaltig beeindruckt war, widersprach: »Sie ist anders als du, aber nicht dämlich.«
    »Du kennst sie nicht so gut wie ich«, erwiderte Marie und Emily verzichtete auf eine Antwort. Sie hatte keine Lust, sich wegen Janna mit Marie in die Haare zu bekommen. Um das Thema zu wechseln, fragte sie: »Hast du eigentlich deinen Großvater gekannt?«
    »Nein. Der ist lange vor meiner Geburt gestorben. Er war ein ganzes Stück älter als meine Oma, ich glaube, er wäre jetzt schon über neunzig. Oma hat nie was von ihm erzählt.«
    »Wirklich?«, wunderte sich Emily. Auch ihr Großvater war bereits tot, aber ihre Mutter und Großmutter sprachen oft von ihm.
    »Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern.« Marie ging in Frau Holtkamps Zimmer zurück, klappte den Koffer mit den Kleidern zu und ließ die Schlösser einschnappen.
    »Und was ist mit eurem Vater?«
    »Meine Eltern haben sich scheiden lassen, da war ich erst fünf. Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
    »Mein Gott, wie furchtbar!«
    »Ach, ich glaube, zu der Zeit hatte er uns schon so gut wie vergessen. Also, nicht gerade vergessen, aber die Besuche bei ihm wurden immer seltener, nur noch Weihnachten und mal in den Sommerferien. Angeblich hatte er immer so viel zu tun.«
    »Das tut mir leid«, sagte Emily mitfühlend. Wie ungerecht doch das Schicksal mit manchen Menschen umging. Warum musste jetzt ausgerechnet auch noch Frau Holtkamp sterben?
    »Und sonst habt ihr keine Verwandten?«
    »Papa hat eine Schwester, aber die wohnt in der Schweiz. Die hat uns schon Jahre nicht mehr gesehen. Sonst ist da niemand, nein.« Marie hob ihre Schultern. »Ach, was soll’s«, sagte sie trotzig. »Oma hat immer gesagt: Jammern hilft nicht. Man muss vorwärtsschauen.«
    In diesem Moment begannen die Türen des Kleiderschranks zu beben, der gläserne Lampenschirm vibrierte in seinem Gestell und ein Rumpeln und Rauschen setzte ein, das rasch zu einer beachtlichen Lautstärke anschwoll.
    »Ach, der Elfuhrzug.« Inzwischen war Emily schon abgebrüht. Beim ersten Güterzug, den sie hier erlebt hatte, hatte sie noch an ein Erdbeben geglaubt. Ohne sich durch den Lärm stören zu lassen, öffnete sie eine Kommode. Ein zarter Lavendelduft ging von den weißen, bestickten Wäschestücken aus, die in säuberlichen Stapeln darin lagen. »Die Bettwäsche bleibt da drin?«, fragte Emily, als der Zug vorbei war.
    »Ja«, antwortete Marie. »Nimm nur die Nachthemden raus, die wird Janna nicht anziehen wollen.« Emily beugte sich vor, um nach den Nachthemden zu suchen. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus.
    »Was ist?«, fragte Marie.
    Emily streckte Marie mit spitzen Fingern eine Schachtel entgegen.
    »Iiih! Ein Gebiss!« Marie schüttelte sich wie ein nasser Hund. Dann überlegte sie laut: »Das muss noch von meinem Großvater sein. Meine Oma hatte ihre eigenen Zähne. Wieso hat sie so was aufgehoben?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht ein Andenken an seine Küsse«, kicherte Emily und Marie musste zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Großmutter herzhaft

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