Waldesruh
schwiegen.
Emily fühlte schon wieder diesen Druck auf ihrem Magen. Sie befürchtete, ihr würde gleich übel werden. Was, wenn die Männer auf sie schießen würden, was, wenn Axel ausflippte und den Helden spielen wollte? Jetzt wünschte sie, sie hätte doch die Polizei informiert. Selbst wenn alles gut ging und sie Moritz wohlbehalten zurückbekamen, fand Emily es nicht gerecht, dass diese Leute einfach so davonkamen. Auf Kindesentführung stand schließlich Gefängnis und da gehörten diese Kerle hin! Außerdem – irgendwann würden sie oder ihr Auftraggeber bemerken, dass sie getäuscht worden waren. Und dann würde alles von vorn anfangen.
Sie durchquerten das Dorf, das noch in tiefem Schlaf lag. Nur wenige Autos begegneten ihnen, ein paar müde Gestalten standen rauchend an der Bushaltestelle. Wo die Männer Moritz in der Zwischenzeit festgehalten hatten? Wohl kaum in einem Hotel. So eine Entführung wollte gut organisiert sein. Vermutlich waren diese Schillinger-Erben schon längst ungeduldig geworden, hatten bereits vor Tagen oder Wochen erkannt, dass dieser Reschke nichts erreichte und deshalb neue Leute hinterhergeschickt. Gangster, die sofort zur Sache kamen, die keiner lei Skrupel hatten. Und mit denen wollten sie es nun aufnehmen.
Axel bog von der Landstraße ab und in den holprigen Waldweg ein. Emily erinnerte sich an ihre Schießübungen. Ja, der Steinbruch war ein idealer Ort, um Dinge zu tun, die keiner sehen sollte. Woher die Männer wohl diesen Platz kannten? Andererseits war das Auskundschaften einer Gegend im Zeitalter von Google-Earth ein Leichtes und ein Steinbruch mitten im Wald war ein markanter Punkt auf einer Satellitenkarte. Kürzlich hatte Emily ihr Haus im Internet angeschaut und war völlig verblüfft gewesen, dass man nicht nur Haus und Garten, ja sogar einzelne Bäume klar erkennen konnte, sondern auch den aufgespannten Sonnenschirm auf der Terrasse. Ihre Mutter hatte sich darüber fürchterlich aufgeregt: »Demnächst kann man nicht nur den Sonnenschirm erkennen, sondern auch den Titel des Buches, das ich lese, wenn ich darunter liege!« Und dazu hatte sie etwas von einem gewissen Orwell gemurmelt, der das angeblich alles vorausgesehen hatte.
Aber vielleicht waren diese Männer gar nicht aus Chile, grübelte Emily weiter. Der Anrufer hatte jedenfalls fließend Deutsch gesprochen, ohne Akzent. Vielleicht gab es eine Art internationale Arbeitsvermittlung für Gangster, bei der man hiesige Verbrecher anheuern konnte? Bei diesem Gedanken wäre sie fast in hysterisches Kichern ausgebrochen.
Sie musste sich zusammennehmen!
Vorsichtig schaute sie hinüber zu Marie. Die blickte angestrengt aus dem Fenster, als würde sie die Entführer hinter den Büschen suchen, die den Weg säumten.
Vorausgesetzt, ich überlebe diesen Morgen – ob ich meinen Eltern jemals davon erzählen werde, überlegte Emily. Wenn, dann erst so etwa in zwanzig bis dreißig Jahren, beschloss sie. Wenn...
Janna schrie auf und Emily und Marie zuckten zusammen. Zwei aufgescheuchte Rehe hatten den Weg gekreuzt, wenige Meter vor dem Wagen. Wie Gespenster verschwanden sie lautlos zwischen den Bäumen.
Axel klopfte Janna beruhigend auf den Schenkel und sagte großspurig: »Musst nicht nervös sein, Baby. Ich bin ja da.«
»Wenn du noch einmal Baby zu mir sagst, kannst du dich im Knabenchor anmelden«, sagte Janna, ohne zu lächeln.
Marie und Emily tauschten einen Blick und ein kurzes Grinsen. Marie rollte zwar mit den Augen, aber Emily erkannte: So verschieden die Schwestern auch waren und so oft sie sich in der Wolle hatten, ein paar grundlegende Prinzipien hatten sie doch gemeinsam.
Der Wagen ratterte weiter über die staubige Straße, bis sich nach einigen Minuten der Wald lichtete. Emily beugte sich vor.
Dorthinten war der Steinbruch! Der Weg schlängelte sich hinunter bis zu einer verlassenen Geröllhalde, wo er endete. Die Fichten oben an der Abbruchkante warfen lange Schatten in die lang gestreckte Mulde, die der Steinbruch bildete.
Ein paar Krähen flogen auf, sonst rührte sich nichts. Niemand war hier.
Emily schaute auf ihre Uhr. Zehn vor fünf.
»Und jetzt?«, fragte Axel.
»Jetzt warten wir, was denn sonst?«, sagte Janna.
»Soll ich mich nicht irgendwo in der Nähe verstecken? Falls etwas schiefläuft?«, schlug Axel vor.
Janna schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn sie da sind, dann steige ich aus. Nur ich, klar?« Sie wandte sich nach Marie und Emily um. Beide nickten. Es war nicht das erste
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