Waldesruh
rein. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn mir jemand dauernd über die Schulter guckt.«
Janna verdrehte die Augen, aber sie nickte. Emily hatte gerade die Staffelei aufgestellt, als das Telefon klingelte. Sie ließ alles stehen und liegen und raste nach unten in die Küche, wo Janna gerade den Apparat auf Lautsprecher stellte.
Eine Männerstimme: »Habt ihr das Bild?«
»Ich will mit meinem Bruder sprechen.«
»Du hast hier gar nichts zu wollen! Erst sagst du mir, ob ihr das Bild habt?«
»Erst will ich meinen Bruder sprechen«, beharrte Janna.
»Ihr kriegt ihn, wenn wir das verdammte Bild bekommen!«, blaffte der Anrufer zurück. Seine schnarrende Stimme verursachte Emily, die atemlos lauschend im Flur stand, eine Gänsehaut.
»Erst will ich Moritz sprechen«, wiederholte Janna gebetsmühlenartig.
»Ihr habt doch nicht etwa die Bullen gerufen? Das würde der Rotznase schlecht bekommen.«
Janna ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wir haben keine Polizei geholt. Also kann ich ihn jetzt sprechen?«
»Nein, verdammt!«, brüllte der Mann.
Janna legte auf. Zwei rote Flecken glühten auf ihren Wangen.
Fassungslos kreischte Marie: »Bist du verrückt? Du kannst doch nicht einfach auflegen!«
»Das ist die einzige Sprache, die sie verstehen.«
»Aber Moritz...«
»Keine Sorge. Er ist ihr Pfand, die wollen doch das Bild«, beschwichtigte Janna.
»Warum haben sie ihn dann nicht ans Telefon geholt?« Marie weinte fast. »Vielleicht ist er schon tot!«
»Red nicht solchen Quatsch und verlier jetzt nicht die Nerven! Die melden sich wieder.«
»Und wenn nicht?«, entgegnete Marie.
»Die melden sich. Und dann sollen sie wissen, dass man uns gefälligst ernst nehmen muss!«
»Bescheuerte Kuh«, stieß Marie hervor.
Emily war zunächst genauso erschrocken wie Marie, aber insgeheim bewunderte sie Janna für ihre Kaltblütigkeit. Niemals hätte sie selbst gewagt, so mit den Entführern umzuspringen. Dennoch, die Luft zwischen Marie und Janna war nach dem Anruf zum Schneiden dick und Emily war froh, sich nach oben zurückziehen zu können.
Sie zog eine frische Leinwand auf einen Rahmen und tackerte ihn fest. Dann nahm sie einen Zeichenblock und begann erst einmal, das Bild anhand der beiden Fotos zu skizzieren. Es war nicht das erste Mal, dass Emily versuchte, ein Bild möglichst naturgetreu abzumalen. Voriges Jahr hatte sie von ihren Eltern zu Weihnachten einen Kunstkalender mit Bildern berühmter Impressionisten geschenkt bekommen. An ein paar der Werke hatte sie sich gewagt. »Nicht schlecht«, hatte ihr Vater bemerkt. »Zur Not kannst du deinen Lebensunterhalt als Kunstfälscherin verdienen.« Unter anderem hatte sie das Getreidefeld mit Raben von Vincent van Gogh zu kopieren versucht. An dieses Bild erinnerte sie dieser Picasso. Das Motiv war zwar ein völlig anderes, doch die Stimmung, die das Bild vermittelte, war ähnlich: traurig, einsam, ein wenig bedrohlich.
Emily begann mit den grundlegenden Dingen: Maße, Abstände, Proportionen. Leider konnte man anhand der Fotos nicht feststellen, wie groß das Bild war. Aber da sie ohnehin nur noch einen Rahmen vorrätig gehabt hatte, erledigte sich dieses Problem sozusagen von selbst. Nach einigen Skizzen fand sie, dass sie allmählich ein Gefühl für das Bild zu entwickeln begann. Der nächste Schritt war nun, die Skizze auf die Leinwand zu übertragen. Doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Mit einem Ohr horchte sie stets auf das Läuten des Telefons. Wie lange lag der Anruf der Kidnapper schon zurück? Eine Stunde, zwei?
Emily sah Schreckensbilder heraufziehen: Moritz, der sich verzweifelt wehrte, ein Mann, der ihn schlug, schon lag der Kleine da und rührte sich nicht mehr...
Das erneute Klingeln des Telefons war geradezu eine Erlösung. Emily stürzte aus dem Zimmer und blieb horchend auf der Treppe stehen.
»Moritz!«, hörte sie Janna rufen. »Wie geht es dir? Bist du in Ordnung?«
In der Aufregung hatte Janna vergessen, auf Lautsprecher zu stellen, deshalb war die Antwort des Kleinen nicht zu hören, nur Janna, die sagte: »Ich weiß, dass du tapfer bist. Du musst keine Angst haben, wir holen dich... Moritz? Moritz? Verdammte Schweine!«
Nun war offenbar der Entführer dran, denn Janna sagte: »Noch nicht. Aber heute Abend. Es ist nicht hier.« Dann sagte sie noch ein paarmal »okay«, »verstanden«, »nein, keine Polizei, das ist schon klar« und legte auf.
»Und?« Emily raste die Treppe hinunter.
»Er ist so weit in Ordnung. Hat
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