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Waldos Lied (German Edition)

Waldos Lied (German Edition)

Titel: Waldos Lied (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Gabriel
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Euch um alle kümmern zu können. Ich habe ihn damals in meine Obhut genommen. Wenn er nun auch kurze und krumme Beine hat, so ist sein Verstand dennoch gerade und klar. Im nächsten Jahr werden wir ihm die Haare zur Tonsur schneiden und ihn in die Reihen der Mönche aufnehmen. Denn er ist gläubig, reinen Herzens und sehr begabt in der schwierigen Kunst des Schreibens. Für sein Alter hat er mehr gelesen und gelernt als manch Älterer.«
    Ich kann nach all den vielen Jahren nicht mehr genau sagen, was mich zu jener Tollheit verführte, die dann folgte. Vielleicht war es die Neuigkeit, dass ich im nächsten Jahr Mönch werden sollte. Natürlich, ich hatte immer gewusst, dass dies mein Schicksal sein würde, und mich damit abgefunden. Wohin hätte ich auch sonst gehen können? Für jemanden wie mich war nur in einer Mönchsgemeinschaft Platz, wenn ich nicht elendiglich zugrunde gehen wollte. Ich taugte weder als Bauer noch als Soldat. Dennoch erschreckten mich diese Worte. Ich hatte noch nicht so bald mit der Weihe gerechnet, was natürlich töricht war. Denn ich hatte nun beinahe das Alter, in dem ein Knabe zum Mann wird. Aber alles in mir wehrte sich gegen diesen entscheidenden Schritt. Ich hatte noch so wenig von der Welt gesehen.
    Noch ein weiteres Gefühl trieb mich zu meiner Tat. Ich ertrug den mitleidigen Blick der jungen Herzogin nicht. So tat ich in meiner Verwirrung und Scham das einzige, was ich außer lesen und schreiben sonst noch gelernt hatte. Ich stellte den Weinkrug langsam und vorsichtig auf den Boden, damit niemand merkte, welcher Aufruhr in meinem Inneren tobte. Dann machte ich einen Handstand und ging auf den Händen durch den ganzen Saal bis dicht vor die geschmückte Tafel, an der der Herzog saß und seine schöne Herzogin. Danach stellte ich mich mit einem eleganten Salto, wie ich fand, und feuerrotem Gesicht wieder auf die Beine. »Ich gehe eben besser kopfüber«, schrie ich so trotzig in Rudolfs Gesicht, dass meine manchmal noch knabenhafte Stimme fast umkippte. »Da sehe ich aus der Nähe, wohin ich mich bewege und auf wen ich trete. Ich kann mich vorsehen. Mancher, der mit hocherhobenem Haupt einherstolziert, würde vielleicht besser bedenken, dass bei ihm der Hintern schärfer sieht, wohin er geht, als die Augen, hinter denen doch eigentlich der Verstand sitzen soll.«
    Für einige Momente herrschte verblüffte Stille. Kunos Gesicht wurde blass vor unterdrückter Wut. Doch das war mir völlig gleichgültig. Ich sah nur in das Gesicht der Herzogin. Und da meinte ich, in diesen dunklen, klaren Augen plötzlich Belustigung zu erkennen. Dann hob sie die Hand vor den Mund. Als sie sie wieder senkte, formten ihre Lippen das strahlendste Lächeln, das ich je gesehen hatte. Sie legte ihre Finger leicht auf den Arm ihres Gemahls und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Herzog lachte lauthals und mit ihm, wie erleichtert, der ganze Saal.
    »>Erlaubt ist, was gefällt<, sagt schon ein römisches Sprichwort«, dröhnte Rudolf. »Und du, Zwerg, gefällst meiner Gemahlin, der edlen Adelheid von Schwaben. Was meint Ihr, verehrter Abt und guter Freund, könnt Ihr meiner Gemahlin zur Erheiterung nicht jenen Zwerg hier überlassen? Nur für eine Weile, damit sie frohen Mutes und leichten Herzens unseren Sohn gebären kann? Mönch werden kann er ja immer noch. Es dauert nicht mehr lange bis zur Geburt. Ehrlich gesagt, mir gefällt er auch. Obwohl er wirklich sehr hässlich ist und mehr Frechheit besitzt, als ihm bei seiner Größe und Herkunft vielleicht guttut.«
    So nahm ich am nächsten Morgen, kaum dass die Sonne über den Horizont gestiegen war, Abschied von der behüteten Welt meiner Kindheit.
    Bevor ich ging, rief mich unser verehrter Vater Abt noch einmal zu sich. »Bleibe fest im Glauben, mein Sohn. Möge der Segen Gottes auf dir ruhen«, sagte er herzlich und fügte dann mit nachsichtigem Lächeln hinzu: »Und denke immer daran: Es ist besser, sich vor sich selbst zum Narren zu machen, als der Narr der anderen zu sein. Noch hast du nicht die Weisheit, die zu letzterem gehört.« Hätte ich mir diesen Rat doch nur zu Herzen genommen.
    Es wurde ein nicht enden wollender, unangenehmer Marsch über die glitschigen Pfade und durch die endlosen Wälder hinunter ins Tal. Doch ich ging diesen Weg ohne Tränen und ohne einen Blick zurück. Niemand scherte sich darum, ob und wie ich mit meinen kurzen, krummen Beinen vorankam. Mehr als einmal rutschte ich im Matsch aus und stürzte, schlug mir Kopf und die Nase

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