Waldos Lied (German Edition)
ich sei ein Tier. Die Pferde in den Ställen waren jedenfalls meine vertrauten Gefährten geworden. Sie lauschten ergeben meinen Erzählungen und den Schilderungen meiner Liebes- und Seelenpein. Diese fielen immer besonders wortreich aus, wenn ich einige Schluck Wein getrunken hatte.
Mit der Zeit war mein Speiseplan erfreulicherweise abwechslungsreicher geworden. Meine Mahlzeiten bestanden immer öfter aus frisch gekochtem Haferbrei oder einem Stück Fleisch oder Rheinsalm, Dinge, die vom Mahl des Herzogs und seiner Gäste übriggeblieben waren. Das Gesinde in der Küche, die Diener und Mägde, die Wächter, die Frauen der Herzogin, der Kellermeister und die Bauern der Umgebung kannten inzwischen den verwahrlosten Zwerg und hatten Mitleid mit mir.
Mehr noch, sie betrachteten mich als Glücksbringer. Hin und wieder musste ich einem der Diener oder einer Magd sogar die Zukunft vorhersagen. Mehr aus dem Gefühl heraus als aus dem Verstand prophezeite ich immer nur Gutes.
Wohl auch deshalb fiel es nicht weiter auf, wenn meine Vorhersagen nicht eintrafen, denn die Menschen geben der Angst vor üblen Geschehnissen sehr viel mehr Macht über sich als der Vorfreude auf etwas Gutes. Auch um Liebeszauber kamen sie zu mir, doch eher Mägde als Diener.
Das Gewissen schlug mir deshalb nicht mehr als sonst. Denn was schadete es schon? Mein Bauch war dadurch immer öfter zufrieden. Als Gegenleistung kam ich bald auch regelmäßig in den Genuss eines warmen Bades, mein knöchellanges, schwarzes Mönchsgewand, der Froccus, wurde fürsorglich gewaschen und geflickt. Ebenso die Kukulle, mein verschlissener Ausgehmantel mit Kapuze, der mir zusammen mit meinem abgeschabten Pelzrock im Stall an besonders kalten Tagen als Decke die Glieder gewärmt hatte. Alle meine Kleidungsstücke waren so schäbig. Sie stammten aus der Hinterlassenschaft eines verstorbenen Mitbruders. Ich hatte sie unten abgeschnitten und mit ungelenken Stichen selbst neu gesäumt, um nicht ständig zu stolpern. Inzwischen waren die Säume ordentlich umgenäht.
Eigentlich hatten die Menschen der Festung auf dem Stein in diesen Zeiten außer der Liebe kaum Sorgen. Bei einem Bauern konnte es schon einmal um eine Kuh gehen, die nicht kalbte, oder um die Beschwörung einer guten Ernte. Rudolf war ein reicher Herr mit großen Besitzungen. Und er hielt seine Leute ordentlich. Trotz der vergangenen harten Winter gab es nur wenig Hunger.
Doch auch wenn es um diese kleinen Dinge ging, kleidete ich meine Prophezeiungen in möglichst geheimnisvolle und unverständliche Worte. So ähnlich hatte es auch einst die Pythia zu Delphi gemacht. Das wusste ich aus einer der vielen Abschriften in der Bibliothek der Abtei, einer Schenkung des Bischofs von Basel. Allerdings soll die Wahrsagerin in Delphi viel Rauch gemacht und auf einem dreibeinigen Schemel über einer Felsspalte gesessen haben. Das konnte mir die Ecke im Stall, die ich mir für meine Besucher eingerichtet hatte, nicht bieten. Dennoch gingen die meisten, die von mir ihre Zukunft wissen oder einen Zauber haben wollten, am Ende verwirrter, als sie gekommen waren. Aber das schien ihnen sehr zu gefallen.
Die Kunde von dem wahrsagenden Zwerg des Herzogs sprach sich immer mehr herum und drang bis in die Gemächer des herzöglichen Paares vor. Deshalb dachten sie wieder an mich.
Die Geburt des ersten Kindes von Adelheid von Rheinfelden und Herzog Rudolf stand zu dieser Zeit unmittelbar bevor. Der Herzogin gehe es sehr schlecht, flüsterte das Gesinde hinter vorgehaltener Hand. Der Herzog wolle sogar eine Nachricht an ihre Mutter, Adelheid von Turin, schicken. Ob Rudolf eine Botschaft sandte, vermag ich nicht zu sagen. Aber er ließ mich zu sich rufen. Ich wurde von einem seiner Diener eilends aus den Ställen vor den Rheinfelder gebracht.
»Waldo heißt du, wenn ich mich recht erinnere.« Rudolf betrachtete mich voller Abscheu. »Die Leute sagen, du sollst Glück bringen und kannst die Zukunft voraussagen. Aber du siehst eher aus wie eine elende Ratte, die heimlich aus ihrem Loch gekrochen kommt.«
Ich reckte mich zu meiner vollen Höhe auf. Mochte mein Froccus auch zerschlissen und ich das Eigentum des Herzogs sein, ich würde mich nicht beleidigen lassen.
»Schon so manche Ratte hat sich mit Geschmeide und Pelzwerk behängt, um ihre wahre Natur zu verbergen. Da sind mir die Ratten doch lieber, die ehrlich aus ihren Löchern kriechen, ohne zu verstecken, welche der Geschöpfe Gottes sie sind«, erwiderte ich
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