Walküre
hatte er Lenschs Papiere zusammen mit den Dokumenten abgelegt, die die Diskrepanz zu den Lieferungen aufwiesen. Die wichtigsten Abschnitte hatte er mit gelben Aufklebern gekennzeichnet.
Er warf einen Blick auf sein Handgelenk. Es war 17 Uhr. Das übrige Personal würde bald Feierabend machen, und Emily würde anrufen, um sich zu überzeugen, dass die Luft rein war. Emily ließ seine Probleme verschwinden: all den Stress, all den Ärger. Wenn er mit ihr zusammen war, wurde er ein anderer Mensch. Ein besserer Mensch. Er lächelte bei dem Gedanken an ihren Anruf; an ihr niedliches, ungrammatisches Deutsch und ihren entzückenden englischen Akzent. Emily würde hinauf in sein Büro kommen, und sie würden allein sein. Aber vorher musste er die Zahlen noch einmal überprüfen. Nur für den Fall, dass der Norweger recht hatte.
Es war genauso, als hätte er seine Schlüssel verloren und als kehrte er immer wieder dorthin zurück, wo er meinte, sie abgelegt zu haben. Claasens musterte die Seite, als könnte seine Aufmerksamkeit die Worte und Zahlen wieder in ihren früheren Zustand zurückbringen. Er wusste ganz genau, dass er die Abweichungen gesehen hatte, aber nun waren sie nirgendwo mehr zu entdecken. Und auch die Papiere von Lensch und die gelben Klebezettel fehlten. Wahnsinn. Er drehte den dicken Ordner um und betrachtete die Innenseite des hinteren Deckels, als würden sich die Papiere dort verbergen.
Er versuchte, den Lärm der Arbeiter auszublenden, und konzentrierte sich auf den Ordner. Ob er den Verstand verloren hatte? Alle Einträge passten zusammen. Es gab keine Abweichungen.
Was zur Hölle ging hier vor?
Sein Handy klingelte, und er wusste, dass es Emily war.
Zweites Kapitel
1.
»Anna«, fragte Werner vorsichtig. »Nichts für ungut ... aber hast du gerade gefurzt?« Er drückte auf den Knopf, und das Seitenfenster des Polos glitt hinunter. Sie parkten auf dem Kiez, am Ende der Silbersackstraße in Richtung Reeperbahn. Hier war die Fahrbahn schmal und dunkel.
»Mach das Fenster zu, Opa«, sagte Anna. »Es ist eiskalt da draußen.«
»Ich lasse es lieber auf eine Erkältung ankommen.«
»Du weißt ja, wer es hat zuerst gerochen ...« Anna lächelte unschuldig.
»Manchmal benimmst du dich nicht gerade damenhaft.« Werner schloss das Fenster, ließ jedoch oben eine kleine Lücke frei.
»Na, du sorgst für den Ausgleich. Du erinnerst mich an meine Tante Rachel. Allerdings hast du weniger Haare im Gesicht. Wie spät ist es?«
»Zwanzig Minuten nach Mitternacht.«
»Ich langweile mich. Es ist höllisch stumpfsinnig hier.«
»Das gehört zu unserem Beruf. Ich dachte, dass du dich inzwischen daran gewöhnt hast.«
»Wieso sind wir mit einem Mal Partner geworden?«, fragte Anna. »Meint Lord Gentleman etwa, dass er mich so an der Kandare halten kann, bis er mich an jemand anderen loswird?«
»Lord Gentleman?« Werner drehte ihr den Kopf zu.
»Du weißt schon, Fabel, der »englische Kommissar«. Woher zum Teufel kommt all die Anglophilie bloß? Schließlich ist er doch Friese, verflucht noch mal.«
»Seine Mutter ist Schottin«, erklärte Werner. »Und er ist dort eine Zeit lang zur Schule gegangen. Allerdings könntest du dich ruhig mal ein bisschen damenhafter ausdrücken.«
»Ein halber Schotte und ein halber Friese ... Kein Wunder, dass er nie eine Runde ausgibt. Jedenfalls nehme ich an, dass dies hier sein Einfall war.«
»Eigentlich nicht. Es war meiner.«
»Was? Oh, ich verstehe. Nun glaubst du also auch, dass ich das Problemkind der Familie bin.«
»Anna, nimm's mir nicht krumm, aber manchmal kannst du einem ganz schön auf den Wecker gehen. Früher habe ich mich immer gefragt, weshalb du dauernd deine schwere Lederjacke trägst. – Sie dient wohl dazu, all die Komplexe zusammenzuhalten, die du mit dir rumträgst. Ich habe vorgeschlagen, dass wir ein Team bilden, weil ich dachte, wir würden gut zusammenarbeiten. Ehrlich gesagt, ich möchte, dass du in der Mordkommission bleibst. Und ich glaube, dass Jan im Grunde auch dafür ist...«
»Ach so«, sagte Anna mit sarkastischem Ernst. »Deshalb also hat er mich gefeuert.«
»Hör mal, Anna, ein bisschen weniger Pampigkeit würde dir besser stehen. Und du bist nicht gefeuert. Noch nicht.«
»Du meinst also, wir könnten gut zusammenarbeiten ...« Anna grinste.
»Das war, bevor ich etwas von der Furzerei wusste.«
»Guck mal ... Dort drüben ...« Anna legte die Hand auf Werners Unterarm und nickte zur Straßenecke hinüber.
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