Walküre
Eine hochgewachsene Frau mit blondem, zu einem Pferdeschwanz gebundenem Haar, die einen langen schwarzen oder dunkelblauen Mantel trug, bewegte sich rasch die Straße entlang und blieb dabei vorwiegend im Schatten. Sie kam an der Bar an der Ecke vorbei und ging auf die Silbersacktwiete zu. »Das sieht vielversprechend aus.«
Wie an jedem Abend in der Woche seit der Ermordung von Jake Westland waren sechs Zivilfahrzeuge der Polizei über den Kiez verstreut. Ihre Insassen beobachteten unbeleuchtete Höfe oder, wie Werner und Anna, die wenigen offenen Flächen, die von Büschen und Bäumen beschattet waren. Die Frau verringerte ihr Tempo, blickte um sich und verschwand in einem großen Dreieck aus Brachland.
»Ich glaube, das könnte interessant werden«, flüsterte Anna. Sie schaltete die Innenbeleuchtung aus, damit das Auto nicht erhellt wurde, wenn Werner die Tür öffnete.
»Ich gehe in die andere Richtung und kehre dann um«, sagte er, stieg aus dem Polo und schloss behutsam den Schlag. In der Dunkelheit zog Anna ihre SIG-Sauer Automatik aus dem Halfter, überprüfte das Magazin und schob den Sicherheitsriegel mit dem Daumen zurück.
Werner ging an dem Auto auf der anderen Straßenseite vorbei. Er bewegte sich in gleichmäßigem Tempo und schaute geradeaus, obwohl ihm nicht entgangen war, dass die Frau, ein Schatten in einem Schatten, sich links vor ihm bewegt hatte. Jetzt war er nur dreißig Meter von ihrem Versteck entfernt. Vermutlich war Anna nun ebenfalls aus dem Auto gestiegen, um sich hinter den anderen geparkten Fahrzeugen zu verbergen und ihm Deckung zu geben. Er hatte die Schultern hochgezogen und die Hände in die Taschen seines dicken Caban-Wollmantels gestopft, als müsse er sich vor der kalten Nacht schützen. Aber seine Hand umklammerte die Automatik in seiner rechten Tasche. Ohne der Frau einen Hinweis darauf zu liefern, dass er wusste, wo sie war, entfernte er sich schräg von der Mauer, die bald von Büschen und Bäumen ersetzt werden würde, und schlenderte auf dem Kopfsteinpflaster weiter. Niemand sonst war in der Nähe. Wenn er es mit der Mörderin zu tun hatte, würde sie bald aktiv werden.
Er heuchelte Überraschung, als sie vor ihm aus dem Schatten trat.
»Hallo.« Werner hörte Spannung, wenn nicht gar Nervosität in ihrer Stimme. »Möchtest du Spaß haben?« Die große blonde Frau war stark geschminkt. Zuerst dachte Werner, sie sei Anfang dreißig, doch als er sich ihr einen weiteren Schritt näherte, konnte er erkennen, dass die Bemalung eine Haut verdecken sollte, die etliche Sommer mehr erlebt hatte.
»Das kommt darauf an«, sagte er. »Wie viel?«
»Ich bin nicht geldgierig«, erwiderte sie. »Außerdem sollte ich hier eigentlich nicht arbeiten. Du kannst es billig haben, aber wir müssen es hier machen, hinter den Bäumen.« Ihre scharlachroten Lippen lächelten, und sie wich wieder zurück in den Schatten.
»Na schön ...« Werner folgte ihr, ohne den Blick durch die Straße schweifen zu lassen, die Augen unverwandt auf sie gerichtet, damit sie nicht auf die inzwischen bestimmt heranschleichende Anna aufmerksam wurde.
»Wie viel?«, wiederholte er und gab sich den Anschein, nach seiner Brieftasche zu greifen, während er in Wirklichkeit die Automatik langsam aus seiner Manteltasche zog.
»Darüber sprechen wir später.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Komm schon.«
»Ich dachte, ihr Mädchen wollt euer Geld immer vorweg haben«, sagte Werner.
Jetzt war es so weit. Sie steckte ebenfalls die Hand in den Mantel.
Werner riss seine Automatik heraus und zielte auf ihr Gesicht. »Polizei Hamburg! Beide Hände auf den Kopf! Sofort. Los!«
Anna war hinter der Prostituierten aufgetaucht. Irgendwie war es ihr gelungen, das Brachland unbemerkt zu umrunden.
Die Nutte starrte Werner verwirrt an. Anna packte sie am Mantelkragen.
»Auf die Knie!«
Sie gehorchte. Anna ließ ein Paar Handschellen um das eine Gelenk der Frau schnappen, zerrte die Hand auf ihren Rücken und fesselte dann die andere. Werner forderte über Funk einen Gefangenentransportwagen an.
Weiter unten auf der Silbersackstraße kam eine Gruppe junger Männer aus einer Bar heraus. Sie steuerten auf den Hans-Albers-Platz zu, doch einem von ihnen fiel das Geschehen auf dem Brachland auf, und er hielt die anderen zurück. Die Schar näherte sich, und die Männer reckten den Hals, um zu sehen, was vor sich ging.
»Ist alles in Ordnung?«, lallte einer misstrauisch. »Was zum Teufel macht ihr hier?«
Anna
Weitere Kostenlose Bücher