Walküre
mitten in die Stirn, und er kippte nach hinten. Sein Körper war starr wie ein gefällter Baum. Birta ging auf ihn zu. Sie wusste, dass er bereits tot war. Dunkelrotes, fast schwarzes Blut sickerte aus einem Nasenloch und dem linken Ohr. Trotzdem kauerte sie sich zu seinen Füßen nieder, zielte an seinem Körper entlang auf die Unterseite seines Kiefers und feuerte eine zweite Kugel ab. Die Zielperson zuckte, als schüttele sie protestierend den Kopf, aber in Wirklichkeit war es die Wirkung des langsamen Hohlspitzgeschosses, das ihr Gehirn innerhalb ihres Schädels zerstörte.
Birta stand auf und prägte sich ein, an welcher Stelle im Flur sie sich befand und wie sie diesen Punkt erreicht hatte. Sie vermaß die forensische Distanz.
Das Treffen war beendet.
Sie fuhr die Nacht hindurch zurück. Es herrschte Schneegestöber, aber die Schnellstraßen waren geräumt worden. Sie überließ sich dem Komfort des Fahrersitzes, schaltete ihre Musik an und entspannte sich – jedoch nicht so sehr, dass sie einen Fehler machen konnte, der die Aufmerksamkeit auf sie lenken würde. Wieder überquerte sie die schwedische Grenze an einer Straße ohne Zollkontrolle und steuerte auf Stockholm zu. Am folgenden Morgen gab sie das Auto am Flughafen Bromma zurück und begab sich zu dem Parkplatz, wo sie ihr in Dänemark registriertes Fahrzeug abgestellt hatte. Damit war Birta Henningsen, die kaum mehr als sechsunddreißig Stunden lang existiert hatte, wie vom Erdboden verschwunden.
4.
Fabel machte sich früh zum Polizeipräsidium auf. Während er nach Winterhude fuhr, zeigte sich die Sonne am klaren Himmel, und der noch liegende Schnee war durch den Nachtfrost harsch geworden. Dieses Wetter gefiel Fabel. Schon als Junge war er ein Wintermensch gewesen.
In seinem Büro sah er sich die internen E-Mails an und fand eine Nachricht seines Vorgesetzten vor: Van Heiden erinnerte ihn an die Konferenz über Gewalt gegen Frauen. Wieder einmal. Fabel schrieb eine kurze Antwort, in der er dringend um ein Gespräch mit van Heiden bat. Außerdem hinterließ er Mitteilungen für Anna und Werner, dass sie sich sofort nach ihrer Ankunft bei ihm melden sollten.
Fabel öffnete seine Schreibtischschublade, holte einen Skizzenblock hervor, legte ihn auf die Tischplatte und schlug ihn auf. Er betrachtete die leere, saubere Fläche weißen Papiers und seufzte. So fing es immer an. Fabel benutzte seit fünfzehn Jahren solche Blöcke für seine Mordermittlungen. Bei Einzel-, Mehrfach- und Serienmorden. Niemand außer ihm bekam die Blöcke je zu Gesicht. Für Fabel war dies eine völlig andere Übung als die Darstellung eines Falles auf einer Schautafel. Sie hatte nichts mit den Bemühungen des Teams zu tun, sondern diente zur Veranschaulichung seiner Denkprozesse. Diese leeren Seiten würden sich mit Namen, Zeiten und Orten füllen, die nach und nach alle durch ein Netz von Linien miteinander verbunden wurden. Neben ihnen würden Sätze, Texte von Zeitungsausschnitten und Zitate aus verschiedenen Aussagen stehen. Dazu Ideen: widerliche, finstere Ideen. Einmal, bei der Untersuchung einer Mordserie, war Fabel auf das Notizbuch des Täters gestoßen: zwanghaft sauber, doch mit verworrenen Verbindungsfäden; Wörter waren unterstrichen, durchgestrichen, von einem Kreis umgeben und mit dreifachen Fragezeichen versehen worden. Es hatte Fabel bis ins Mark frösteln lassen, wie sehr die Methodik des Mörders seiner eigenen ähnelte.
Fabel schrieb mit einem Filzstift den Namen ENGEL mit Blockbuchstaben an den Kopf der Seite und setzte drei Fragezeichen dahinter. Dann notierte er, einander gegenüber, die Namen der beiden Opfer aus St. Pauli. Auf die Fallakten und sein Notizbuch zurückgreifend, brachte er die Schlüsselelemente der Verbrechen zu Papier. Doch dabei drängte sich immer wieder ein anderer Fall in sein Bewusstsein: der des toten dänischen Polizisten. Er versuchte, ihn aus seinen Gedanken zu verbannen, denn es war im Grunde noch gar kein Fall, wiewohl Möller, der Gerichtsmediziner im Butenfeld, widerwillig versprochen hatte, dass die Autopsieergebnisse bis Mittag vorliegen würden. Fabel dachte an Karin Vestergaard und erinnerte sich an ihre Schönheit, ohne sich jedoch an ihre Gesichtszüge entsinnen zu können.
Seine Überlegungen wurden durch das Erscheinen von Anna Wolff und Werner in seinem Büro unterbrochen. Er klappte den Skizzenblock zu, ließ ihn wieder in der Schreibtischschublade verschwinden und forderte Anna und Werner auf,
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