Walküre
er kein Leibwächter oder Polizist sein. Er hatte eine große Schneeschaufel bei sich getragen, und Birta vermutete, dass er eine Hilfskraft oder ein Gärtner gewesen war. Warum war sie bei ihren Nachforschungen nicht auf ihn gestoßen? Sie verfluchte sich und wischte die Klinge an der Schulter seines Parkas ab. Gleichzeitig musterte sie die Zufahrt in ihrer ganzen Länge und die Ränder des Waldes. Birta steckte das Messer zurück ins Futteral, öffnete den Reißverschluss ihres Parkas und zog ihre mit einem Schalldämpfer ausgestattete Automatik aus dem Halfter. Niemand sonst war zu sehen.
Nach einem weiteren Blick auf den Wald und den Schneewall, der die Zufahrt säumte, wählte sie eine Stelle zwischen den Bäumen und zerrte den Toten durch den Schnee hinüber.
Wieder auf der Zufahrt, hob sie das noch nicht am Gewehr angebrachte Zielfernrohr auf und richtete es auf die großen, hellen Fensterquadrate des Hauses. Sie wusste, wo das Arbeitszimmer ihrer Zielperson war und dass er sich dort bis etwa 21 Uhr aufhalten würde. Die Fensterläden waren nicht geschlossen worden, und sie konnte das gesamte Zimmer einsehen. Keine Zielperson. Sie widmete sich den anderen erhellten Zimmern. Nichts. Das war schlecht. Sie verspürte eine vage Panik in der Brust und setzte, wie ihr beigebracht worden war, ihre Willenskraft ein, um das Gefühl zu unterdrücken. Wenn man Angst hatte oder unter Stress stand, ging leicht etwas schief. Dann misslang das Treffen, oder jemand wurde aufmerksam, während man sich entfernte. Ruhig. Bleib ruhig.
Birta musterte die Zufahrt erneut. Nichts. Sie blieb regungslos stehen, hielt den Atem an und nahm die Geräusche der Nacht und des Waldes in sich auf. Wieder fluchte sie, denn sie würde die forensische Distanz verringern müssen. Es war eine einfache Regel: Je größer die Distanz, desto geringer war die Chance, entdeckt und abgefangen zu werden. Beim Einsatz des Scharfschützengewehrs etwa bildete die Kugel, die möglicherweise Holz oder Glas und dann Fleisch und Knochen durchbohrte, bevor sie in einem Ziegel stecken blieb oder vom Mauerwerk deformiert wurde, die einzige forensische Verbindung zwischen ihr selbst und der toten Zielperson. Mit der Distanz vergrößerte sich die Chance, ungesehen davonzukommen.
Aber wenn sich die Zielperson nicht zeigte, konnte Birta das Gewehr nicht einsetzen. Natürlich war es möglich, dass er sich einfach nur in der Küche ein Sandwich machte, doch da sie sich um eine sekundäre Zielperson hatte kümmern müssen, stand sie unter Zeitdruck. Wäre sie nicht von der Hilfskraft entdeckt worden, hätte sie eine Stunde oder vielleicht länger auf das Auftauchen der Zielperson gewartet. Nun aber würde sie sich dem Haus nähern und es möglicherweise sogar betreten müssen. Und das bedeutete die Aufgabe der forensischen Distanz.
Birta verstaute das Gewehr in seinem Behälter, zog ihre Handfeuerwaffe aus dem Halfter und schlich auf das Haus zu.
2.
Anna Wolff hatte drei Abende darauf verwendet, den trunkenen Schritten von Armin Lensch nachzuspüren. Dabei hatte sie über die Situation nachgedacht, in die sie durch ihre eigene Schuld geraten war. Seit Fabel sie für sein Team ausgewählt hatte, war sie an der Aufklärung von siebzehn Mordfällen beteiligt gewesen. Siebzehn Morde aus so banalen Gründen wie alkoholbedingter Wut oder sexueller Eifersucht.
Und einige, wie die letzten, waren aus so perversen und unerfindlichen Motiven begangen worden, dass sie die dafür verantwortlichen Geister, solange sie auch noch in der Mordkommission arbeiten mochte, nie würde verstehen können. Im Gegensatz zu Fabel. Es war ein gruseliger Gedanke, dass er die Motive dieser Menschen nachvollziehen konnte. Vielleicht hatte er doch recht mit seiner Vermutung, dass sie sich nicht für die Mitarbeit in der Mordkommission eignete.
Anna wollte es immer noch nicht in den Kopf, dass der Mann, dem sie das Knie in die Weichteile gerammt hatte, mittlerweile tot war. Irgendwie hatte sie das Gefühl, zu seinem Tod beigetragen zu haben. Vielleicht traf das ja auch zu. Von seinen Freunden hatte sie schließlich erfahren, dass er von ihnen wegen seiner Begegnung mit ihr veralbert worden war und sich allein davongemacht hatte. Und dann war er von jemandem ermordet worden: das letzte Element in einer Folge von Ereignissen, die sie möglicherweise in Bewegung gesetzt hatte. Eine unbehagliche Vorstellung.
»Wohin wollen Sie jetzt, Frau Kommissarin?«, fragte Theo.
Sie wandte sich zu ihm um.
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