Walküre
gewesen. Sie hätte ein hohes Niveau erreichen und sich an internationalen Wettkämpfen beteiligen können, doch ihre Eltern, die darin eine unnötige Quälerei sahen, stellten sich dagegen. Genieße deinen Sport, hatte ihr Vater ihr einmal geraten, doch lass nicht zu, dass sie um einer Lüge willen deinen Körper misshandeln und deine Gesundheit schädigen. Damals hatte sie ihn nicht verstanden, aber nun wusste sie, was ihrer Schwester angetan worden war. Margarethe hatte ihr davon erzählt. Bei jedem Besuch ein wenig mehr, von immer neuen Schrecken.
Die Funktionäre hatten Margarethes Leben gestohlen. Es war wie eine Vergewaltigung gewesen. Nein, schlimmer. Sie hatten sie zerstört, sie ihrer Menschlichkeit beraubt. Und dann, als klar wurde, dass Margarethe ihre Anforderungen nicht erfüllen konnte, hatten sie das Mädchen verstoßen.
Ute wandte sich vom Spiegel ab und durchquerte das Wohnzimmer bis zu dem Fenster, das auf die Straße hinunterblickte. Noch kein Anzeichen. Sie schaute auf ihre Uhr. Ein paar Minuten darüber hinaus. Sie kehrte zum Spiegel zurück, trug ein wenig Make-up auf und glättete ihr Haar mit den Händen.
Sie hatte sich sorgfältig überlegt, welche Kleidung sie tragen würde: elegant, ohne für einen Mittwochnachmittag übertrieben zu wirken. Für genau diesen Mittwochnachmittag, wenn Herr Gerdes nach Hause kam. Er wohnte in der obersten Etage, in dem Apartment mit Dachterrasse. Wie Ute in Erfahrung gebracht hatte, war Herr Gerdes alleinstehend, aber sie wusste nicht, ob er geschieden, Witwer oder eingefleischter Junggeselle war. Ein wirklich ruhiger Nachbar. Die einzigen Geräusche, die sie je aus seiner Wohnung hörte, waren musikalischer Art – Brahms und manchmal Bruch –, und auch die hörte sie nur hin und wieder, wenn sie zu ihrem eigenen Apartment hinaufging.
Ute legte die Hand auf den Messinggriff, öffnete behutsam die Tür und lauschte. Nach einem Moment hörte sie, wie die Haustür unten ins Schloss fiel und wie sich Schritte auf der Treppe näherten. Sie trat hinaus, gerade als er ihren Absatz erreichte.
»Oh, guten Tag, Frau Cranz«, begrüßte er sie lächelnd. Er trug einen dicken Rollkragenpullover unter einer hochwertig wirkenden Tweedjacke. In der einen Hand hielt er helle Schweinslederhandschuhe. »Kalt ist es heute. Wollen Sie hinaus?«
»Ich bin froh, dass ich Sie treffe, Herr Gerdes«, erwiderte sie, ohne auf seine Frage zu antworten. »Wie Sie wissen, bin ich erst vor Kurzem hier eingezogen. Ich habe ein Problem mit dem Mietvertrag und wollte Sie bitten, mir einen oder zwei Punkte zu erklären.«
Er runzelte die Stirn. »Sehr gern, aber im Moment ...«
»O nein ... nicht sofort.« Sie machte eine entschuldigende Geste. »So kurzfristig würde ich Ihnen das nicht zumuten. Ich dachte ... also ... ich wollte Sie fragen, ob ich Sie am Samstagabend zum Essen einladen dürfte.« Ein kurzes Schweigen, und sie fuhr eilig fort: »Ich habe nämlich keine Gelegenheit mehr, für jemanden zu kochen, und da ich ein paar Filets gekauft habe ...«
Sein Lächeln wurde breiter, und er machte einen Schritt auf sie zu. »Frau Cranz, es wäre mir eine Freude.«
8.
Es war ein anstrengender Tag gewesen. Zum Teil deshalb, weil er so viel Zeit mit Karin Vestergaard hatte verbringen müssen. Fabel hätte sich nie ausgemalt, dass die Gesellschaft einer schönen Frau so langweilig sein konnte. Und sie war doch schön, oder nicht? Er stellte immer noch fest, dass es fast unmöglich war, sich an ihr Gesicht zu erinnern, wenn er auch nur sekundenlang nicht in ihrer Gegenwart war. Dabei hatte Fabel ein Talent dafür, sich an Gesichter zu erinnern – schließlich gründete sich seine Karriere auf diese Fähigkeit. Er rief Susanne aus seinem Büro an und erklärte ihr, dass er sich verpflichtet gefühlt habe, die Dänin für 20 Uhr zum Essen einzuladen.
»Bitte, bitte komm mit«, flehte er. »Diese Frau ist unglaublich schwer zu verkraften, und ich brauche deine Hilfe.«
»Aber ich will dem Steuerzahler nicht zur Last fallen. Ich nehme an, dass du die Sache auf Spesen laufen lässt, oder?«
»Du bist an der St.-Pauli-Ermittlung beteiligt. Es ist eine legitime Ausgabe. Frau Vestergaard dürfte an deiner Zusammenarbeit mit der Kommission interessiert sein. Und ich zahle das sogar privat.«
»Mein Gott, sie muss wirklich schwer zu verkraften sein.«
»Ich reserviere einen Tisch in dem Fischrestaurant in Neumühlen ... deinem Lieblingsrestaurant.«
»Ich glaube
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