Walküre
damit er die St.-Pauli-Morde untersuchen und gleichzeitig Ermittlungen über Jespersens Tod anstellen konnte. Offiziell sollte Fabel die Nachforschungen parallel durchführen, indem er auf jeden der Fälle ein Team ansetzte und beide lenkte. Das war übergeordnete Leitung oder Aufsichtsführung oder wie zum Teufel es sonst genannt wurde. Aber Fabel behagte diese Arbeitsweise nicht. Er war der Meinung, dass ein hoher Ermittlungsbeamter genau das tun solle: ermitteln. Doch die Polizei Hamburg hatte – wie Sylvie Achtenhagen unablässig unterstrich, wenn jemand eine Fernsehkamera auf sie richtete – die früheren Ermittlungen zum Engel-Fall verpatzt. Fabels Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass nun allen Formalitäten Genüge getan wurde.
»Lass Anna und mich den St.-Pauli-Fall bearbeiten.« Werner achtete mit linkischer Sorgfalt darauf, das Wort »Engel« nicht zu erwähnen, um seinen Chef nicht aufzubringen. Fabel war berühmt dafür, dass er die Comic-Namen verachtete, welche die Medien Serienmördern so gern anhängten. »Und lass Dirk Hechtner und Henk Hermann den dänischen Fall untersuchen. Wenigstens haben wir jede Menge andere Leute zur Verfügung. Wir scheinen ausnahmsweise genug Personal zu haben.«
»Es ist erstaunlich, was die falsche Art von Publicity ausrichten kann«, meinte Fabel grimmig.
»Zynismus steht dir nicht, Chef«, meinte Werner. »Wir alle lieben dich wegen deines brillanten Witzes und deines fröhlichen Wesens.«
»Da du gerade deinen überwältigenden Respekt vor mir unter Beweis stellst – habe ich hier einen neuen Spitznamen?«, fragte Fabel.
Werner zuckte die Achseln.
»Weißt du, dass mich anscheinend ein paar Leute Lord Gentleman nennen. Das soll ein großer Jux darüber sein, dass ich halber Brite bin.«
»Wahrscheinlich hat es mehr mit deiner Garderobe zu tun«, widersprach Werner und fuhr rasch fort: »Mir ist das neu.«
Bevor Werner das Zimmer verließ, hatten sie einen umfassenden Ermittlungsplan für beide Fälle ausgearbeitet. Die St.-Pauli-Untersuchung lief bereits, doch die Ermittlungen im Fall Jespersen hatten noch keine Gestalt angenommen und stützten sich eher auf Ideen und Mutmaßungen als auf irgendwelche Beweise. Eine weitere leere Seite in Fabels Skizzenheft.
Hinsichtlich der St.-Pauli-Morde hatte Fabel beschlossen, sich näher mit Jake Westland zu beschäftigen. Aus der Akte erfuhr er, dass Westland Brite war, 1953 geboren, allem Anschein nach unehelich, weil er sofort zur Adoption freigegeben und von mittelständischen Eltern in Hampshire aufgezogen worden war. Musikstudium in London, Gründung der ersten Band 1972, der zweiten 1978, Start einer Solokarriere 1981. Zwei goldene, eine Platinschallplatte. Dreimal verheiratet. Vier Kinder aus zwei dieser Ehen.
Fabel wusste, dass die Fakten allein nicht ausreichten. Aber im Moment hatte er einfach nicht die Zeit, nach England zu reisen, um mit Westlands Angehörigen und Freunden zu sprechen. Falls er Glück hatte und die Frau des Popsängers nicht zu erschüttert war, würde er in ein paar Tagen mit ihr sprechen können, wenn sie die Leiche abholte.
Um die Informationen in der Akte zu ergänzen, nahm Fabel eine Internetrecherche über Westland mit seinem Bürocomputer vor. Aus den Einzelheiten setzte er das Bild eines Mannes zusammen, der ihm nicht gefiel. Westland war allen Angaben zufolge arrogant, rechthaberisch und egozentrisch gewesen. Kein Wunder, denn als erfolgreicher Künstler benötigt man ein Ego, mit dem sich ein Stadion füllen lässt. Das Problem war nur, dass Westland keine Stadien mehr füllte. Seine Veranstalter hatten die Hallen, in denen er auftrat, verkleinert. Diese Strategie sorgte dafür, dass er hin und wieder immer noch ein volles Haus bekam.
Aufgrund seiner Informationen konnte Fabel im Geist eine Ruhmeskurve des britischen Sängers zeichnen, die Mitte der Achtzigerjahre ihren Höhepunkt erreichte. Danach war seine Popularität, wenn auch nicht sein Vermögen, rasch geschwunden. Jake Westland wäre vermutlich schon sehr bald passe gewesen. Bevor er die Bühne für immer und spektakulär in einer dunklen Kiezgasse verließ, hatte er kaum noch Schlagzeilen gemacht. Auf einen Versuch des Sängers, Schauspieler zu werden, hatte die Presse höhnisch reagiert. Nur einmal kehrte er in die öffentliche Aufmerksamkeit zurück: als sein schäbiges Sexualleben die britischen Boulevardzeitungen erregte. Sein nachlassender Einfluss hinderte ihn jedoch nicht daran, vor allen, die ihm
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