Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Walkueren

Walkueren

Titel: Walkueren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Þráinn Bertelsson
Vom Netzwerk:
weiß nicht genau, wie es mir geht. Diese Antidepressiva haben Vor- und Nachteile. Ich habe nicht mehr diesen Stein auf der Brust, aber die Medikamente stumpfen mich ab. Ich bin träge und teilnahmslos, und irgendwie bekomme ich nichts mehr zu fassen. So als würde mich jemand mit einer Fernbedienung in eine bestimmte Richtung lenken, ohne Rücksicht auf die Umgebung zu nehmen.«
    »Nimmst du nicht Seroxat?«
    »Doch. So heißt es.«
    »Das ist ein gutes Medikament«, erklärte Hinrik.
    »Aber es verursacht so eine geistige Erschöpfung«, sagte Víkingur.
    »Keine Rose ohne Dornen, sagte der Fuchs, als er vom Igel stieg. Ich finde es seltsam, dass du solche Formulierungen wie ›geistige Erschöpfung‹ verwendest. Das ist eher ein medizinischer Ausdruck.«
    »Wie soll ich es denn sonst nennen?«
    »Du bist doch ausgebildeter Theologe, und in der Sprache der Theologie bezeichnet man geistige und körperliche Erschöpfung schlicht als ›Faulheit‹, was nichts Geringeres ist als eine der sieben Todsünden. Denk dran: eine Todsünde.«
    »Das wird ja immer schlimmer«, sagte Víkingur.
    Aber Hinrik redete unbeeindruckt weiter: »Wenn du Arzt wärst und ich Theologe, würde ich dir raten, dein Verhältnis zu Gott zu überprüfen und hin und wieder vor ihm niederzuknien. Denn die Versuchung ist am Werk: das Böse, der Teufel, der alle Menschen packen und auf seine Seite ziehen will. Er provoziert Faulheit und Gleichgültigkeit. Aber weil ich Arzt bin und du Theologe, kann ich den Teil deines Problems, der in meinen Bereich fällt, lösen, indem ich deine Seroxatdosis auf zwanzig Milligramm pro Tag erhöhe. Nimm morgens noch eine Tablette zusätzlich. Außerdem würde ich an deiner Stelle beten, meditieren, mich ausruhen, laut singen oder irgendwas tun, um wieder ins Gleichgewicht und in Kontakt mit dem Leben zu kommen. Und vor allem solltest du dich täglich bewegen.«
    »Irgendwas muss ich jedenfalls tun, um wieder einigermaßen leistungsfähig zu werden.«
    »Leistungsfähig? Depressive sind nie völlig unbeweglich und untätig, mein Freund. Du befindest dich im Kreise der produktivsten Menschen der Geschichte. Die Depression ist eine tolle Krankheit. Ganz anders als Tripper. Soll ich dir Leute aufzählen, die dasselbe durchgemacht haben wie du und trotzdem noch sehr produktiv waren?
    Sollen wir mit den Gläubigen anfangen? Martin Luther persönlich litt an Depressionen, ebenso wie Ignatius von Loyola, eine Art Kripobeamter wie du. Sogar Heilige waren depressiv – der heilige Franz von Assisi ist ein leuchtendes Beispiel dafür.
    Dann die Dichter: Hans Christian Andersen, Balzac, Tolstoi, Victor Hugo, Charles Dickens, Hemingway, Dylan Thomas, T. S. Eliot, Agatha Christie. Ja, und Herman Melville – heißt es nicht, ›Moby Dick‹ sei der großartigste Roman, der je geschrieben wurde? Musiker? Zeitgenössische? Elton John, John Lennon, Tom Waits, Kurt Cobain – den sollte man sich vielleicht nicht unbedingt als Vorbild nehmen. Oder ältere? Tschaikowsky, Rossini, Schumann, Mahler, Elgar und sogar das Genie, das von Gott womöglich mehr geliebt wurde als irgendein anderer Erdenbewohner: Wolfgang Amadeus Mozart.
    Eine unendliche Liste von Berühmtheiten: Abraham Lincoln, Napoleon, Nelson, Michelangelo, Platon, Winston Churchill oder Säufer wie Boris Jeltzin und Nixon. Willst du noch mehr hören?«
    »Nein danke, das ist sehr inspirierend.«
    »Sogar Skandinavier können depressiv sein. Edvard Munch und mein Namensvetter Ibsen. Oder Hollywoodstars: Marilyn Monroe, Marlon Brando, Harrison Ford. Die lagen auch nicht auf der faulen Haut und haben sich selbst bemitleidet.«
    »Nein, gewiss nicht. Willst du damit sagen, man soll es einfach abschütteln?«
    »Nein, mein Freund«, antwortete Hinrik. »Man soll nichts abschütteln. Man soll mit seinen Freunden reden, daran denken, seine Medikamente zu nehmen, und dankbar dafür sein, dass man eine kleine Weile leben darf. Und dann soll man das Beste daraus machen und nicht vergessen, dass andere auch nicht besser dran sind. Jeder hat mit dem Teufel zu kämpfen, ob er sich offen zeigt oder nicht. Du kommst dir vielleicht manchmal teilnahmslos vor, aber du wirst trotzdem gebraucht. Denk nur an den Leitspruch der Polizei.«
    »Durch Gesetze wird unser Land erbaut?«
    »Nein. Durch Polizisten wird unser Land erbaut«, sagte Hinrik. »Jetzt muss ich aber los. Ich werde in der Praxis erwartet; ganze Heerscharen warten auf ihre Medikamente. Du bist wirklich privilegiert. Dein

Weitere Kostenlose Bücher