Wall Street Blues
vom Licht. Aber dieses Licht brachte Enthüllungen mit sich. Die dunklen alten Gebäude hatten viele Geheimnisse geborgen, und die krummen kleinen Straßen schienen voller Rätsel zu stecken. Das helle Licht war beinahe eine Einladung an die SEC, sich umzuschauen.
Wetzon bog in die Broad Street ein, die in holländischer Zeit ein Kanal gewesen war. Sie liebte die historische Aura dieses Teils von New York. Wegen ihres Berufs war sie immer in Eile, wenn sie zu einem Treffen oder einem Vermittlungsgespräch hierherkam, und danach fuhr sie sofort wieder zurück. Eines Tages würde sie mit einem Stadtführer in der Hand wie eine Touristin durch die Straßen schlendern.
Es begann zu regnen. Sie spannte den Schirm auf und bog in die kurze, enge Gasse der Beaver Street ein. Diese alten Straßen waren schon bei normalem Tageslicht dunkel, weil auch nicht allzu hohe Gebäude das Licht nahmen. Die Straße hatte kaum die Breite eines Personenautos, da sie für Karren und Kutschen geplant und später noch durch schmale Gehsteige eingeengt worden war, die kaum breit genug für eine Person waren. Und wenn jeder einen Schirm trug wie jetzt, wurde es zu einem Hindernislauf.
Wetzon versuchte, an einem dicken, bärtigen Mann vorbeizukommen, der eine Pizza verspeiste, ohne auf den Regen zu achten, als sie mit einer Frau zusammenstieß, die einen roten Hochglanzregenmantel trug und einen riesigen rot und weiß gestreiften Schirm hielt.
»Du lieber Himmel, das ist ja Wetzon! Warum sind Sie nicht in Ihrem Büro und telefonieren Dollars zusammen?«
Wetzon war so in Gedanken versunken gewesen, daß sie Laura Lee Day nicht erkannt hatte, eine zierliche Frau etwa in Wetzons Alter, die einen schwarzen Geigenkasten im Arm hatte, als hielte sie ein Baby. Laura Lees braunes Haar im Wet-Look stand kurz und stachlig hoch, mit blonden Spitzen, aber sehr gepflegt. Vor zwei Jahren hatte Wetzon sie bei Merrill abgeworben und bei Oppenheimer untergebracht.
Als Flüchtling aus Mississippi, der immer noch den breiten Südstaatenakzent sprach, wenn es ihm paßte, war Laura Lee Day nach New York gekommen, um an der Juilliard School Geige zu studieren, aber ihr Vater meinte, sie solle entweder heiraten oder einen anständigen Beruf wählen, deshalb hörte er nach einigen Monaten auf, den Unterricht zu bezahlen. Sie hatte eine Stelle bei Merrill als Maklerin angenommen, nur um Geld für ihr Musikstudium zu verdienen. Vier Jahre später war sie eine der Topmaklerinnen in der Wall Street geworden. Sie hatte eine hübsche Wohnung direkt gegenüber der Juilliard und zahlte ihre Geigenstunden bei einem der besten Lehrer der Welt selbst.
»Laura Dee Day, wie sie leibt und lebt«, antwortete Wetzon im Südstaatenakzent.
»Wetzon, Wetzon«, schalt Laura Lee milde. »Ich weiß, was Sie sich zumuten, und das muß ein Ende haben, hören Sie?« Sie trat auf die Straße, um jemanden vorbeizulassen. »Machen Sie den Kinderschirm zu, und kommen Sie unter meinen.«
»Laura Lee, ich bin in der Klemme«, gestand Wetzon, indem sie den eigenen Schirm zusammenfaltete und sich unter den riesigen rot und weiß gestreiften stellte. »Ich bin in der Klemme, seit...«
»Kein Wort mehr, Wetzon. übrigens habe ich heute an Sie gedacht. Machen wir den Bürgersteig frei. Wir verursachen hier einen gewaltigen Verkehrsstau.«
Die winzige alte Beaver Street, wo die Baumwollbörse einst ihren Hauptsitz hatte, gab einem das Gefühl einer optischen Täuschung. Die hoch aufragenden Gebäude schienen sich über den Menschen weit unten wie Bäume nach innen zu neigen. Ein Auto kroch langsam auf sie zu und drängte sie wieder auf den Bürgersteig.
Wetzon sah auf die Uhr. »Ich bin spät dran«, sagte sie, wenngleich ohne ihre gewohnte Besessenheit, pünktlich zu Verabredungen zu kommen.
»Wohin müssen Sie?«
»Ich habe eine Verabredung am Broadway 61.« Wetzon hakte sich bei Laura Lees Schirmarm unter, und sie gingen auf den Broadway zu.
»Wohin danach?«
»Die Bar im Vista um fünf.«
»Gut. Wenn Sie am Broadway fertig sind, kommen Sie gleich in mein Büro und holen mich ab.« Laura Lee war temperamentvoll, auch an einem trüben Tag, und heute sprudelte sie vor Energie.
»Was haben Sie vor, Laura Lee? Wo gehen wir hin?«
»Century Twenty-one hat einen großen Ausverkauf an Wäsche.«
»Laura Lee«, lachte Wetzon, »Sie sind verrückt. Ich trage keine Seidenwäsche.« Sie blieben an der Ecke Beaver und Broadway stehen.
»Dann, meine Liebe, wird es höchste Zeit«, sagte Laura
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