Wall Street Blues
Fahrgast ein Mann, groß und breitschultrig. Was ihren Blick magisch anzog, war der Haarschopf, der gerade hochstand und dann über die Mitte des Kopfs zum Nacken lief. Die Seiten waren kahlgeschoren. Das übrige Haar war ungefähr sieben Zentimeter breit, eher weniger. Wie ein Irokesenkrieger. Nur lila. Die Augen waren dick mit schwarzem Lidstrich und Lidschatten geschminkt, und die Haut war aschig. An dem für Wetzon sichtbaren Ohr steckten vier Sicherheitsnadeln übereinander, angefangen beim Ohrläppchen. An den Sicherheitsnadeln waren Schrottstückchen befestigt, die geformt oder zumindest geplant erschienen. Die Augen fixierten nichts, sondern waren gesenkt.
Die Beine steckten in groben Netzstrümpfen, voll von zusätzlichen Löchern und Rissen und waren an der Seite des Beins, das zu sehen war, von weiteren, großen Sicherheitsnadeln zusammengehalten, bis hoch in die kurze abgeschnittene Hose. An den Füßen waren klobige braune Militärstiefel, zur Hälfte geschnürt, sehr blank poliert und mit herausragender Lasche.
Der Körper trug ein weißes T-Shirt mit einem verblaßten Muster und ein abgetragenes Arbeitshemd darüber, nicht zugeknöpft, die Ärmel aufgerollt. Nichts deutete auf Brüste hin, doch bei näherem Hinsehen begann irgend etwas an der rätselhaften Gestalt Weiblichkeit auszustrahlen. Die Nägel waren grell rot angemalt, aber das hatte heutzutage in Hinblick auf das Geschlecht nicht viel zu sagen.
In einer Stadt, wo jeder eine Verlautbarung abgeben mußte, wirkte diese wie ein Blitzstrahl. Sie war jemandes Tochter, wer auch immer das war, Gott steh ihm bei. Der Trotz, der von der steifen Gestalt ausging, war greifbar.
Wetzon schauderte. Ihr Leben war in Aufruhr. Sie war voller, Zweifel, über sich selbst, ihre Arbeit, Smith, Leon. Sie war froh, daß Rick Pulasky am Abend vorbeikommen wollte. Es würde sie ablenken, und sie würde nicht allein sein. Zum erstenmal empfand sie ein Unbehagen, allein zu wohnen, das sie früher nie gespürt hatte. Aber das war albern. Es war unmöglich, in New York City zu leben und sich nicht gelegentlich verletzbar zu fühlen.
Der Wagen leerte sich an der Chambers Street, die trotzige Gestalt eingeschlossen, und drei schwarze Teenager stiegen zu und machten sich ihr gegenüber breit. Sie trugen lange weiße Sportsocken, Turnhosen und New Balance-Laufschuhe mit dem großen rosa N an der Seite. Teure Schuhe für Teenager. Sie wußte nicht, ob es gewöhnliche Teenager waren oder ob sie über sie herfallen und ihre Handtasche an sich reißen würden. Ihre normalerweise guten Instinkte ließen sie im Stich. Sie stand auf, als der Zug in die Park Place einfuhr, aber der abrupte Halt warf sie wieder auf den Sitz. Als sich die Tür öffnete, stiegen zwei Zugbegleiter ein, die mit ihren dunkelroten Mützen sehr tüchtig aussahen, und Wetzon entspannte sich sichtlich. Die Teenager redeten weiter, ohne auf Wetzon oder die Zugbegleiter zu achten.
Mann, oh Mann, ihre Phantasie machte Überstunden. Sie stieg in der Wall Street aus. Es regnete nicht mehr, aber die Luft war klamm und kalt. Sie knüpfte ihren Burberry zu. Mildred Gleasons Büro war nicht weit, Broadway Nummer 61. Es war kurz vor zwei Uhr.
Der Himmel über ihr wurde dunkler, als sie durch die Wall Street ging, die trotz des Wetters voller Menschen war. Ursprünglich im 17. Jahrhundert als Wall gebaut, um die damals holländische Stadt gegen die Engländer zu schützen, war die Straße bis zur Wende zum 20. Jahrhundert in das Finanzzentrum des Landes umgemodelt worden. In den letzten fünfzehn Jahren war der Finanzdistrikt, der jetzt meist einfach als The Street bezeichnet wurde, zu einer Mischung aus Altem und Neuem geworden: Hier, wo Wetzon jetzt ging, waren unerschütterliche Betonbauten, gealtert und rußgeschwärzt, und die Straßen waren dunkle, enge Schächte, und unten am East River, an der Südspitze von Manhattan, waren die Gebäude Riesentürme aus Marmor und Glas.
Wetzon staunte immer über die unirdische Atmosphäre im unteren Manhattan. Überall mischten sich Büroangestellte mit Geschäftsführern und Boten, Verkäufern, Wertpapierhändlern, Arbitrageuren. In diesem Stadtteil sah man wenig Touristen mit Kameras. Die hier Ansässigen hasteten durch die engen, schmutzigen Straßen, durch die schiere Masse der Bauten zu Zwergen gemacht — tatsächlich und symbolisch.
Vielleicht waren deshalb so viele Firmen zur Water Street und in das Gebiet um die Battery umgezogen, angezogen vom weiten Raum und
Weitere Kostenlose Bücher