Wall Street Blues
Realität waren Frauen Außenseiter und würden es bleiben. Alles in der Branche, bis zum Dekor, war männlich ausgerichtet. Sie gratulierte Mildred im Geist, daß sie sie selbst war.
Die Empfangsdame schien Probleme zu haben, zu Mildreds Assistentin durchzukommen. Sie wählte mehrere Male und ließ es läuten. Schließlich sagte sie: »Ich kann Miss Bancroft, Miss Gleasons Assistentin, nicht erreichen, ich rufe also Miss Gleason direkt an... Oh, Miss Gleason... ja. Ich komme nicht zu Bobbie durch... ach so... Miss Wetzon ist hier... ja... schön.« Sie legte auf, lächelte Wetzon an und erhob sich. »Wenn Sie bitte hier langgehen möchten.« Sie öffnete die Tür in einen breiten, hellen Korridor, der mit dickem grauen Plüsch ausgelegt war. »Durch diesen Korridor, am Ende nach rechts und geradeaus. Miss Gleason befindet sich am anderen Ende des Korridors.« Sie trat zur Seite und ließ Wetzon durchgehen. Die Tür schloß sich hinter ihr mit einem leisen Klick.
Wie anders war das als Jake Donahues Firma. An den Wänden hingen alte Drucke in der Art von Currier und Ives. Vielleicht waren sie sogar echt. Schließlich war Mildred Glea-sons Vater in den vierziger Jahren einer der großen Regenmacher der Wall Street gewesen. Wetzon ging langsam und sah dabei in die Büros, die sich auf den Korridor öffneten. Die recht geräumigen Büros waren für einen, manchmal zwei Makler eingerichtet. Alle Türen standen offen, und die marktübliche Hektik drang in einer leisen Unruhe zu ihr, nicht in einem Tohuwabohu wie bei Jake. Alles sehr geschäftsmäßig. Die Stimmen waren gedämpft, und sogar die Telefone läuteten mit leisen brrrs.
Sie bog rechts um die Ecke und ging durch einen weiteren angenehmen Raum, noch mehr Drucke von Currier und Ives, offene Türe zum Korridor. Das leise Gesumme der Stimmen folgte ihr. Die Tür am Ende des Korridors stand halb offen, und Wetzon blieb stehen. Sie hörte ärgerliche Stimmen. Frauenstimmen.
»Sie werden nichts zahlen. Ich lasse es nicht zu. Merken Sie nicht, daß sie lügt? Man sieht es ihr doch an, daß sie es nicht hat.«
»Sie wollen es nicht zulassen? Nun aber langsam. Vergessen Sie, wer Sie sind? Wer ich bin?« Die tiefe krächzende Stimme gehörte Mildred Gleason.
Dann sprach eine Weile keiner. »Ich könnte das nie im Leben tun. Sie würden es mich nie vergessen lassen — keine Minute.« Etwas, ein Buch vielleicht, knallte auf eine harte Fläche. »Oh, Gott, mein Kopf bringt mich noch um.«
»Bobbie, bitte seien Sie nicht böse.« Gleasons Stimme bettelte. »Das macht den Schmerz doch nur schlimmer. Und für mich — für uns — steht so viel auf dem Spiel.« Wieder trat eine lange Pause ein. »Sie bedeuten mir soviel.«
Die andere Stimme antwortete: »Manchmal haben Sie eine seltsame Art, es zu zeigen...«
Die Stimmen senkten sich zu Gemurmel.
Wetzon spürte Gewissenbisse, daß sie lauschte. Es war eine sonderbare Unterhaltung für zwei Frauen, es sei denn, sie hätten ein Verhältnis. Tatsächlich hatte sie sich Mildred Gleason nie mit einem Geschlechtsleben vorgestellt, obwohl sie mit Jake Donahue verheiratet gewesen war, der als Schürzenjäger bekannt war. Sie klopfte an die Tür.
»Herein, bitte.« Mildred Gleason stand auf und kam mit ausgestreckten Händen um den Schreibtisch herum. Sie trug einen maßgeschneiderten schwarzen Wollgabardinerock, eine rosa Seidenbluse und einen schwarzen Krokogürtel mit großer goldener Schnalle. »Ich bin so dankbar, daß Sie kommen konnten. Hier, bitte, wenn Sie sich auf das Sofa setzen möchten...«
Wetzon betrat einen Raum voller Antiquitäten. Ein schöner alter Schreibtisch stand vor den Fenstern, und auf dem Boden lag ein sehr großer Perserteppich. Die Jacke zu dem schwarzen Gabardinerock lag, das Bild störend, auf der Tischplatte, als habe Mildred sie gerade ausgezogen. Die Jalousien vor den Fenstern waren schräggestellt, so daß der Raum in gedämpftes Licht getaucht war.
Die andere Frau saß in der Ecke gegenüber auf einem Ohrensessel, der dem im Empfangszimmer ähnelte. Sie trug etwas tief Olivgrünes und stand nicht auf. Wetzon konnte kaum die Perlenketten unterschiedlicher Länge auf dem vollen Busen erkennen. Es war schwierig, das Alter der Frau einzuschätzen, weil sie ein dunkle Brille und einen gemusterten Seidenturban trug, der den Grünton der Kleidung aufgriff und das Haar vollständig bedeckte. Ohne auf Wetzon zu achten, stöhnte sie leise und preßte eine lange, schmale Hand gegen die
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