Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
versuchte, eine Pressemitteilung zu formulieren. Auf dem Schreibtisch lagen eine Menge Telefonzettel, die eine der Telefonistinnen dort hingelegt hatte. Nachdem er zwischen den Zetteln vergeblich nach dem Namen seiner Tochter gesucht hatte, legte er sie auf einen Haufen in das Post-Eingangskörbchen. Um dem Unbehagen zu entgehen, vor den Fernsehkameras der Regionalnachrichten zu stehen und zu sagen, daß die Polizei im Moment keine Spur hatte von dem oder den Tätern, die den brutalen Mord an den alten Menschen begangen hatten, bat er Rydberg inständig, sich dieser Aufgabe anzunehmen. Immerhin: die Pressemitteilung würde er selbst aufsetzen. Aber was sollte er schreiben? Die Arbeit des Tages hatte kaum etwas anderes ergeben als eine große Ansammlung von Fragezeichen.
Es war ein Tag des Wartens gewesen. Auf der Intensivstation lag die alte Frau, die die Schlinge um ihren Hals überlebt hatte, und kämpfte um ihr Leben.
Würden sie jemals erfahren, was sie in jener fürchterlichen Nacht auf dem abgelegenen Hof gesehen hatte? Oder würde sie sterben, noch bevor sie etwas erzählen konnte?
|32| Kurt Wallander sah aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit.
An Stelle der Pressemitteilung begann er, eine Zusammenfassung dessen zu erstellen, was tagsüber unternommen worden und von welchen Anhaltspunkten auszugehen war.
Nichts, dachte er, als er fertig war. Zwei alte Menschen, ohne Feinde, ohne verstecktes Geld, werden brutal niedergeschlagen, gefoltert. Die Nachbarn haben nichts gehört. Erst als die Täter verschwunden sind, haben sie den Hilferuf der alten Frau gehört und bemerkt, daß ein Fenster eingeschlagen worden ist. Rydberg hatte noch keine Spuren gefunden. Das war alles.
Alte Menschen auf isolierten Höfen sind seit jeher bevorzugte Opfer von Raubüberfällen geworden. Dabei sind sie auch gefesselt, geschlagen und manchmal auch getötet worden.
Aber dieser Fall liegt anders, dachte Kurt Wallander. Diese Schlinge erzählt ihre düstere Geschichte von Brutalität und Haß, vielleicht auch von Rache.
Irgend etwas stimmte bei diesem Raubüberfall nicht.
Nun konnte man nur hoffen. Den ganzen Tag über hatten mehrere Polizeistreifen mit den Einwohnern von Lenarp geredet. Vielleicht hatte jemand etwas gesehen? Oftmals kundschafteten die Täter vor Überfällen auf alte, isoliert wohnende Menschen die Gegend aus, bevor sie zuschlugen. Und vielleicht konnte Rydberg trotz allem am Tatort doch noch einige Spuren finden?
Kurt Wallander sah auf die Uhr. Wann hatte er das letzte Mal im Krankenhaus angerufen? Vor fünfundvierzig Minuten? Einer Stunde?
Er beschloß zu warten, bis er seine Pressemitteilung fertig hatte.
Er setzte den Kopfhörer des kleinen Kassettenrecorders auf und legte eine Kassette mit Jussi Björling ein. Der kratzende Laut der Aufnahme aus den dreißiger Jahren konnte die Schönheit der Musik aus ›Rigoletto‹ nicht übertönen.
Die Pressemitteilung wurde acht Zeilen lang. Kurt Wallander |33| ging zu einer Sekretärin und bat sie, den Text zu schreiben und Kopien davon zu machen. Währenddessen las er einen Fragebogen, der mit der Post an alle geschickt werden sollte, die in der Gegend um Lenarp wohnten. Hatte man etwas Ungewöhnliches gesehen? Etwas, das mit dem brutalen Überfall in Verbindung stehen konnte? Er traute dem Formular nicht viel mehr zu, als daß es zusätzliche Arbeit machen würde. Er wußte, daß die Telefone ununterbrochen klingeln und zwei Polizisten den ganzen Tag damit beschäftigt sein würden, sich Beobachtungen anzuhören, die für die Aufklärung des Falles nicht von Bedeutung waren.
Trotzdem muß es gemacht werden, dachte er. Dann wissen wir zumindest, daß niemand etwas gesehen hat.
Er ging in sein Zimmer zurück und rief erneut im Krankenhaus an. Aber die Lage war unverändert; die alte Frau kämpfte nach wie vor um ihr Leben.
Gerade als er den Hörer aufgelegt hatte, kam Näslund in sein Zimmer.
»Ich hatte recht«, sagte er.
»Recht?«
»Månssons Anwalt war wütend.«
Kurt Wallander zuckte mit den Schultern.
»Damit müssen wir leben.«
Näslund kratzte sich am Kopf und fragte, ob sie vorankamen.
»Bisher haben wir noch nichts. Aber wir haben alles angeleiert. Das war’s erst mal.«
»Ich habe gesehen, daß der vorläufige gerichtsmedizinische Bericht gekommen ist.«
Kurt Wallander hob die Augenbrauen.
»Warum weiß ich davon nichts?«
»Er lag bei Hansson.«
»Da liegt er ja gerade richtig!«
Kurt Wallander stand auf und ging in den Flur. Es
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