Wallander 01 - Mörder ohne Gesicht
hinausgeirrt, daß er sich auf dem Weg nach Italien befand.
»Beruhige dich doch bitte, Vater«, sagte er. »Ich wollte dich zum Bahnhof fahren. Damit du nicht zu gehen brauchst.«
Der Vater sah ihn zweifelnd an.
»Das glaube ich dir nicht«, sagte er.
»Das ist doch selbstverständlich, daß ich meinen eigenen Vater zum Bahnhof bringe, wenn er verreisen will.«
Kurt Wallander hob den Koffer auf, machte ihn wieder zu und begann, zum Auto zurückzugehen. Er legte den Koffer in den Kofferraum und blieb wartend stehen. Sein Vater sah wie ein von Scheinwerfern eingefangenes Beutetier aus, wie er dort draußen auf dem Feld stand. Ein Tier, das bis zu einem aussichtslosen Endpunkt gejagt worden ist und nun nur noch auf den Gnadenschuß wartet.
Dann begann er, auf das Auto zuzugehen. Kurt Wallander konnte nicht entscheiden, ob das, was er da sah, ein Ausdruck für Würde oder für Erniedrigung war. Er öffnete die Hintertür, |211| und sein Vater kletterte hinein. Auf dem Rücksitz fand sich eine Decke, die er ihm um die Schultern legte.
Er erschrak, als plötzlich ein Mann aus der Dunkelheit auftauchte. Ein alter Mann, mit einem schmutzigen Overall bekleidet.
»Ich hatte angerufen«, sagte der Mann. »Wie sieht’s aus?«
»Alles in Ordnung«, antwortete Wallander. »Danke, daß Sie angerufen haben.«
»Es war reiner Zufall, daß ich ihn gesehen habe.«
»Ich verstehe. Nochmals vielen Dank.«
Er setzte sich ans Steuer. Als er sich umschaute, konnte er erkennen, daß sein Vater so sehr fror, daß es ihn unter der Decke schüttelte.
»Jetzt fahren wir zum Bahnhof, Vater«, sagte er. »Es dauert nicht lange.«
Er fuhr auf direktem Weg zur Notaufnahme des Krankenhauses. Dort traf er den jungen Arzt wieder, den er kurz zuvor bereits an Maria Lövgrens Sterbebett gesehen hatte. Er erklärte, was geschehen war.
»Wir behalten ihn über Nacht hier und beobachten ihn«, sagte der Arzt. »Er kann sich diese Nacht ziemlich unterkühlt haben. Morgen muß dann die Fürsorgerin versuchen, einen Platz für ihn zu finden.«
»Danke«, sagte Kurt Wallander. »Ich bleibe noch einen Augenblick bei ihm.«
Sein Vater war abgetrocknet und auf eine Trage gelegt worden.
»Schlafwagen nach Italien«, sagte er. »Endlich komme ich dorthin.«
Kurt Wallander setzte sich auf einen Stuhl neben der Trage.
»Ja genau«, erwiderte er. »Jetzt kommst du nach Italien.«
Es war schon nach zwei, als er schließlich das Krankenhaus verließ. Er fuhr zum Polizeipräsidium zurück. Alle außer Hansson waren für diese Nacht nach Hause gegangen. Hansson saß vor dem Fernseher und schaute sich die Aufnahme der Diskussionsveranstaltung |212| an, an der der Reichspolizeichef teilgenommen hatte.
»Ist was gewesen?« fragte Wallander.
»Nichts«, antwortete Hansson. »Eine Reihe von Hinweisen natürlich. Aber kaum etwas wirklich Bahnbrechendes. Ich habe mir die Freiheit genommen, alle Leute nach Hause zu schicken, damit sie ein paar Stunden schlafen.«
»Das war gut. Seltsam, daß sich niemand wegen des Autos meldet.«
»Ich habe gerade darüber nachgedacht, während ich hier gesessen habe. Vielleicht fuhr er nur ein kurzes Stück auf der E 14 und ist dann wieder auf eine der Nebenstraßen abgefahren. Ich habe mir die Karten angesehen. Es gibt da ein richtiges Wirrwarr von kleinen Straßen in dieser Gegend. Plus einem großen Naherholungsgebiet, in das sich im Winter so schnell keiner verirrt. Die Streifen, die die Unterkünfte überwachen, durchkämmen diese Straßen heute nacht.«
Wallander nickte.
»Wir setzen einen Hubschrauber ein, sobald es hell wird. Das Auto könnte irgendwo in diesem Naherholungsgebiet versteckt sein.«
Er goß sich eine Tasse Kaffee ein.
»Svedberg hat mir das mit deinem Vater erzählt«, sagte Hansson. »Wie ist es gelaufen?«
»Alles in Ordnung. Der Alte ist senil geworden. Er ist jetzt im Krankenhaus. Aber es gab keine Probleme.«
»Geh nach Hause und schlaf ein paar Stunden. Du siehst völlig fertig aus.«
»Ich hab’ da noch ein paar Sachen, die geschrieben werden müssen.«
Hansson schaltete den Videorecorder ab. »Ich haue mich ein wenig aufs Sofa«, meinte er.
Kurt Wallander ging in sein Büro und setzte sich an die Schreibmaschine. Seine Augen brannten vor Müdigkeit.
Aber diese Müdigkeit war von unerwartet klaren Gedankengängen |213| begleitet. Ein Doppelmord wird begangen, dachte er. Und die Jagd nach den Mördern löst einen anderen Mord aus. Den wir schnell lösen müssen, um nicht noch
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