Wallander 02 - Hunde von Riga
und er legte sich auf die Erde und ließ sich von dieser Sintflut aus Spielzeug begraben. Er dachte die ganze Zeit, daß man ihn entdecken und erschießen und sein falscher Paß ihm nichts nützen würde. Inese war tot, das Lagerhaus |271| umzingelt, und die verrückten, träumenden Menschen hatten keine Chance gehabt.
Das Gewehrfeuer hörte genauso plötzlich wieder auf, wie es begonnen hatte. Die einsetzende Stille war ohrenbetäubend, und er lag unbeweglich da und versuchte, nicht zu atmen. Er hörte Stimmen, Soldaten oder Polizisten, die miteinander sprachen, und plötzlich erkannte er eine Stimme wieder, es gab keinen Zweifel, es war Sergeant Zids. Durch die Decke aus Puppen hindurch konnte er die Männer undeutlich erkennen. Die Freunde des Majors schienen alle tot zu sein und wurden auf grauen Bahren hinausgetragen. Dann trat Sergeant Zids aus dem Schatten hervor und befahl seinen Männern, die Halle zu durchsuchen. Wallander schloß die Augen und dachte, daß bald alles vorbei sein würde. Er fragte sich, ob seine Tochter jemals erfahren würde, was ihrem Vater zugestoßen war, der während eines Winterurlaubs in den Alpen verschwunden war, oder ob sein Verschwinden als ein seltsames Rätsel in die Annalen der schwedischen Polizei eingehen würde.
Aber niemand kam und schaufelte die Puppen von seinem Gesicht. Die hallenden Stiefelabsätze entfernten sich. Die wütende Stimme des Sergeants hörte auf, seine Männer anzutreiben, und dann lagen nur noch Stille und der beißende Geruch abgefeuerter Munition über dem Raum. Wie lange er unbeweglich dalag, wußte Wallander nicht. Die Kälte, die von dem Zementboden ausging, ließ ihn schließlich so stark zittern, daß die Puppen anfingen zu klappern. Vorsichtig setzte er sich auf. Einer seiner Füße war eingeschlafen oder steifgefroren, er hätte es nicht sagen können. Der Boden war blutverschmiert, überall waren Einschußlöcher zu sehen, und er zwang sich, einige Male tief durchzuatmen, um sich nicht zu erbrechen.
Sie wissen, daß ich hier bin, dachte er. Sergeant Zids hat seinen Männern befohlen, nach mir zu suchen. Aber vielleicht haben sie auch gedacht, ich wäre noch nicht angekommen? |272| Vielleicht haben sie geglaubt, daß sie zu früh zugeschlagen haben?
Er zwang sich zum Denken, aber er sah nur die zusammengesunkene, tote Inese vor sich. Er mußte aus diesem Totenhaus herauskommen. Nun war er völlig allein, und es gab nur noch eins zu tun: die schwedische Vertretung zu finden und um Hilfe zu bitten. Er hatte solche Angst, daß er zitterte. Sein Herz schlug so heftig gegen seine Brust, daß er glaubte, eine Herzattacke zu bekommen, die er nicht überleben würde. Plötzlich traten ihm Tränen in die Augen. Die ganze Zeit über dachte er an Inese und wollte bloß fort. Es sollte ihm später nie gelingen herauszufinden, wieviel Zeit vergangen war, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.
Das Eisentor war natürlich verschlossen. Er war überzeugt, daß die Halle bewacht wurde. Solange es Tag war, würde er nicht davonkommen können. Hinter einem der umgestürzten Regale befand sich ein Fenster, fast völlig mit eingefressenem Schmutz bedeckt. Vorsichtig watete er durch zerschlagene und zerschossene Spielsachen darauf zu und sah hinaus. Das erste, was er erkannte, waren zwei Jeeps, die mit der Front in Richtung Lagerhalle geparkt waren. Vier Soldaten bewachten mit schußbereiten Waffen aufmerksam das Gebäude. Wallander verließ das Fenster und sah sich um. Er hatte Durst. Irgendwo mußte es Wasser geben, denn er hatte ja einen Tee bekommen. Während er sich nach einem Wasserhahn umschaute, dachte er darüber nach, was er nun tun sollte. Er war ein Gejagter, und seine Jäger waren unfaßbar brutal. Auf eigene Faust Kontakt mit Baiba Liepa aufzunehmen, würde sein Todesurteil bedeuten. Er zweifelte nicht mehr daran, daß die Obersten, zumindest einer von ihnen, zu allem fähig waren, um zu verhindern, daß die Ermittlungsunterlagen des Majors an die Öffentlichkeit drangen, in Lettland oder im Ausland. Inese, die Schüchterne, die Scheue, hatten sie kaltblütig erschossen, wie einen tollwütigen Hund. Vielleicht hatte sogar sein eigener Fahrer, der freundliche Sergeant |273| Zids, jenen Schuß abgefeuert, der sie direkt ins Auge getroffen hatte.
Seine Angst wurde von erbittertem Haß überlagert. Wenn er eine Waffe in der Hand hätte, würde er nicht mehr zögern, sie zu benutzen. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde ihm klar, daß er in der Lage
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