Wallander 02 - Hunde von Riga
war, einen anderen Menschen zu töten, ohne daß es aus Notwehr geschah.
Leben hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit
, dachte er. Diese Beschwörungsformel hielt ihn aufrecht, seit ein Betrunkener ihm im Pildammspark in Malmö ein Messer in die Brust, direkt neben seinem Herz, gerammt hatte; jetzt hatte dieser Satz neue Bedeutung gewonnen.
Schließlich fand er eine schmutzige Toilette, in der ein Wasserhahn tropfte. Er ließ Wasser über sein Gesicht laufen und löschte seinen Durst. Dann ging er in eine abgelegene Ecke der Lagerhalle, schraubte eine Glühbirne heraus, die von der Decke hing, und setzte sich in die Dunkelheit, um auf den Abend und die Dämmerung zu warten.
Um seine Angst in den Griff zu bekommen, versuchte er, einen Fluchtplan zu entwickeln. Irgendwie mußte er in die Innenstadt gelangen und die schwedische Vertretung finden. Er mußte darauf gefaßt sein, daß jeder Polizist, jedes »Schwarze Barett« wußte, wie er aussah und den eindeutigen Befehl hatte, Ausschau nach ihm zu halten. Ohne die Hilfe der schwedischen Vertretung würde er verloren sein. Über einen längeren Zeitraum hinweg unentdeckt zu bleiben, erschien ihm ausgeschlossen. Außerdem mußte er damit rechnen, daß auch die Botschaften und Konsulate überwacht wurden.
Die Obersten glauben, daß ich das Geheimnis des Majors schon kenne, dachte er. Sonst hätten sie bestimmt nicht so reagiert. Ich spreche von den Obersten, weil ich immer noch nicht weiß, wer hinter all dem steckt.
Er döste ein paar Stunden vor sich hin, um schlagartig aufzuwachen, wenn ein Auto vor der Lagerhalle bremste. Dann und wann kehrte er zu dem verdreckten Fenster zurück. Die |274| Soldaten waren noch da, ihre Aufmerksamkeit schien ungebrochen. Wallander durchlitt diesen langen Tag erfüllt von einem Gefühl anhaltender Übelkeit. Das Böse erschien ihm übermächtig. Er zwang sich dazu, die Lagerhalle zu durchsuchen, um einen Fluchtweg zu finden. Der Haupteingang war ausgeschlossen, weil die Soldaten ihn unter ständiger Beobachtung hielten. Schließlich entdeckte er in Bodenhöhe eine Luke in einer Wand, die früher einmal als eine Art Belüftungsschacht gedient haben mußte. Er drückte ein Ohr gegen die kalte Ziegelwand, um herauszufinden, ob auch an dieser Stelle Soldaten Wache hielten, aber es gelang ihm nicht. Was er tun sollte, wenn ihm die Flucht gelang, wußte er nicht. Er versuchte, sich so gut es ging auszuruhen, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ineses zusammengesunkener Körper, ihr blutiges Gesicht, ließen ihm keine Ruhe.
Die Abenddämmerung brach herein, und es wurde schnell kälter.
Kurz vor sieben machte er sich auf den Weg. Vorsichtig begann er, die rostige Luke abzuheben. Die ganze Zeit stellte er sich vor, daß Scheinwerfer aufleuchten, aufgeregte Stimmen Kommandos schreien und Kugelsalven in die Ziegelwand einschlagen würden. Schließlich glückte es ihm, die Luke zu lösen, und er ließ sie langsam aufgleiten. Von einem benachbarten Fabrikgelände wurde schwaches, gelbliches Licht über eine Sandfläche vor der Halle geworfen. Er versuchte, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Nirgendwo konnte er Soldaten entdecken. Ungefähr zehn Meter vom Gebäude entfernt standen ein paar verrostete Lastwagen auf dem Gelände. Er beschloß, zunächst einmal unbeschadet dorthin zu gelangen. Er holte tief Atem, duckte sich und lief dann so schnell er nur konnte zu den schützenden Autowracks. Als er den vorderen Lastwagen erreichte, stolperte er über einen ausgedienten Reifen und schlug mit dem Knie gegen einen Kotflügel. Ein bohrender Schmerz durchfuhr ihn, und er fürchtete, daß der |275| Lärm die Soldaten auf der anderen Seite der Lagerhalle anlocken würde. Aber es passierte nichts. Der Schmerz war heftig, und er spürte, daß Blut an seinem Bein herunterlief.
Wie sollte er jetzt weiterkommen? Er versuchte, sich ein schwedisches Generalkonsulat oder vielleicht eine Botschaft vorzustellen. Er wußte nicht, welche Vertretung Schweden in Lettland unterhielt. Mit einem Mal wurde er sich bewußt, daß er weder aufgeben konnte noch wollte. Er mußte Baiba Liepa finden, er würde kein privates Notsignal abfeuern. Nachdem er der Verdammung, die über der Lagerhalle lag, in der Inese und der schielende Mann den Tod gefunden hatten, entkommen war, konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen. Er war wegen Baiba Liepa gekommen, sie mußte er finden, und wenn es das letzte war, was er in seinem Leben tat.
Vorsichtig
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