Wallander 02 - Hunde von Riga
Taschenlampe.
»Leuchten Sie auf die Vertäuungen«, sagte er.
In diesem Moment sah Wallander zum ersten Mal sein Gesicht. Ein Mann um die vierzig, vielleicht etwas älter. Ein wettergebräuntes Gesicht mit der gegerbten Haut eines Menschen, der sich oft im Freien aufhält. Er trug einen dunkelblauen Overall und eine graue Jacke und hatte eine schwarze Mütze tief in die Stirn gezogen.
Der Mann hielt sich an einer der Halteleinen fest und kletterte an Bord. Er verschwand in der Dunkelheit in Richtung Ruderhaus, und Wallander wartete. Kurz darauf wurde eine Petroleumlampe entzündet. Der Mann kehrte über das knarrende Deck zum Bug zurück.
»Kommen Sie an Bord«, sagte er.
Unbeholfen hielt sich Wallander an der kalten Reling fest und kletterte an Bord.
Er folgte dem Mann über das abschüssige Deck und stolperte über ein Tau.
»Fallen Sie bloß nicht rein«, sagte der Mann. »Das Wasser ist kalt.«
Wallander folgte ihm in das enge Ruderhaus und dann weiter in den Maschinenraum. Es roch nach Diesel und Schmieröl. Der Mann hängte die Petroleumlampe an einen Haken an der Decke und schraubte den Docht herunter.
Wallander begriff plötzlich, daß der Mann große Angst hatte. Seine Finger zitterten, und er hatte es eilig.
Wallander setzte sich auf die unbequeme Pritsche, auf der eine schmutzige Decke lag.
»Sie halten, was Sie versprechen«, sagte der Mann.
|72| »Ich halte immer, was ich verspreche«, antwortete Wallander.
»Das tut keiner«, meinte der Mann. »Mich interessiert nur das, was mich angeht.«
»Haben Sie auch einen Namen?«
»Der tut hier nichts zur Sache.«
»Aber Sie haben ein rotes Rettungsboot mit zwei toten Männern gesehen?«
»Vielleicht.«
»Sonst hätten Sie wohl kaum angerufen.«
Der Mann zog eine schmutzige Seekarte zu sich heran, die neben ihm auf der Pritsche lag.
»Hier«, sagte er und zeigte auf die Karte. »Hier habe ich es gesehen. Es war nachmittags neun Minuten vor zwei, als ich es entdeckte. Am zwölften, am Dienstag also. Ich habe mir meine Gedanken darüber gemacht, woher es gekommen sein könnte.«
Wallander suchte in seinen Taschen nach einem Stift und etwas, worauf er schreiben konnte. Aber er fand natürlich nichts.
»Mal langsam«, sagte Wallander. »Erzählen Sie noch einmal von vorne. Wo haben Sie das Boot entdeckt?«
»Ich habe es aufgeschrieben«, sagte der Mann. »Gut sechs Seemeilen von Ystad entfernt, direkt nach Süden gepeilt. Das Boot trieb in nordöstliche Richtung. Ich habe mir die genaue Position aufgeschrieben.«
Er streckte die Hand aus und reichte Wallander einen zerknitterten Zettel. Wallander hatte das Gefühl, daß die Positionsbestimmung genau war, auch wenn ihm die Zahlen nichts sagten.
»Das Boot trieb dort also«, sagte er. »Wenn es geschneit hätte, wäre ich nie darauf aufmerksam geworden.«
Wären
wir
nie darauf aufmerksam geworden, dachte Wallander kurz. Jedesmal, wenn er
ich
sagt, zögert er fast unmerklich. Als ob er sich selbst daran erinnern müßte, nur teilweise die Wahrheit zu sagen.
|73| »Es trieb an Backbord«, fuhr der Mann fort. »Ich schleppte es bis zur schwedischen Küste. Als ich Land sah, machte ich es wieder los.«
Das erklärt die abgeschnittene Leine, dachte Wallander. Sie hatten es eilig und waren nervös. Sie zögerten nicht, ein Stück von einer Leine zu opfern.
»Sie sind Fischer?« fragte er dann.
»Ja.«
Nein, dachte Wallander. Jetzt lügst du wieder. Und du lügst ungeschickt. Ich frage mich, wovor du Angst hast.
»Ich war auf dem Heimweg«, fuhr der Mann fort.
»Sie haben doch sicher ein Funkgerät an Bord«, sagte Wallander. »Warum haben Sie nicht die Küstenwache alarmiert?«
»Ich hatte meine Gründe.«
Wallander verstand, daß er dem Mann im Overall seine Angst nehmen mußte. Sonst würde er nie etwas herausfinden. Vertrauen, dachte er. Er muß spüren, daß er sich wirklich auf mich verlassen kann.
»Ich muß mehr erfahren«, sagte Wallander. »Alles, was hier gesagt wird, werde ich natürlich bei den Ermittlungen verwenden. Aber niemand wird erfahren, daß Sie es gesagt haben.«
»Niemand hat etwas gesagt. Niemand hat angerufen.«
Auf einmal begriff Wallander, wie das Ganze zusammenhing. Es gab eine einfache und völlig logische Erklärung für den beharrlichen Willen des Mannes, anonym zu bleiben, und für seine Angst. Der Mann, der ihm gegenübersaß, war nicht allein an Bord des Schiffes gewesen, als sie das Rettungsboot sichteten, das hatte er schon vorher begriffen, bei
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