Wallander 02 - Hunde von Riga
Obwohl ich gestehen muß, daß ich die Landesfarben nicht kenne.«
|151| »Ich glaube schon, daß es nötig ist. Wenn Sie sagen, unser Land sei wie alle anderen Länder auch, wird mir klar, daß es gewisse Dinge gibt, die Sie unbedingt verstehen müssen.«
Wallander nahm einen Schluck von dem lauwarmen Tee. Er versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Er glaubte aus den Augenwinkeln einen schwachen Lichtstreifen sehen zu können. Möglicherweise eine Tür, die nicht ganz geschlossen war.
Der Fahrer wärmte sich die Hände an seiner Teetasse. Seine Augen waren geschlossen, und Wallander verstand, daß er sich nicht an dem Gespräch beteiligen würde.
»Wer sind Sie?« fragte er. »Lassen Sie mich wenigstens so viel wissen.«
»Wir sind Letten«, antwortete Upitis. »Wir sind zufällig während einer besonders unglücklichen Epoche in diesem gemarterten Land geboren worden, unsere Wege haben sich gekreuzt, und wir haben begriffen, daß wir eine gemeinsame Aufgabe haben, der wir uns nicht entziehen dürfen.«
»Major Liepa …?« begann Wallander, ließ die Frage dann aber im Raum schweben.
»Lassen Sie mich von vorne anfangen«, sagte Upitis. »Sie müssen verstehen, daß unser Land sich am Rande eines endgültigen Zusammenbruchs befindet. Wie in den beiden anderen baltischen Staaten und den anderen Ländern, die von der Sowjetunion bisher wie Kolonien beherrscht wurden, versuchen die Menschen hier, jene Freiheit wiederzuerobern, die ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg genommen wurde. Aber die Freiheit wird im Chaos geboren, Herr Wallander, und in den Schatten lauern Ungeheuer mit grausamen Absichten. Es wäre ein katastrophaler Irrtum zu glauben, man könne einfach für oder gegen die Freiheit sein. Die Freiheit hat viele Gesichter. Die Russen, die hier angesiedelt worden sind, damit sie sich mit dem lettischen Volk vermischen und es damit auf lange Sicht dem endgültigen Untergang weihen, machen sich nicht nur Sorgen, weil ihre Anwesenheit hier in Frage gestellt |152| wird. Sie fürchten natürlich auch, all ihre Privilegien einzubüßen. Und die Geschichte kennt kein Beispiel dafür, daß Menschen je freiwillig auf Privilegien verzichtet hätten. Deshalb rüsten sie sich zur Verteidigung, und sie tun dies im Verborgenen. Deshalb kann es wie im letzten Herbst geschehen, daß sowjetisches Militär die Kontrolle übernimmt und den Ausnahmezustand verhängt. Es ist auch ein Irrtum, zu glauben, eine geeinte Nation könne unbeschadet von einer Diktatur zu einer Demokratie überwechseln. Für uns ist die Freiheit so verlockend wie eine schöne Frau, der man nicht widerstehen kann. Für andere ist die Freiheit eine Bedrohung, die mit allen Mitteln bekämpft werden muß.«
Upitis verstummte, als hätte diese Erkenntnis ihn erschüttert.
»Eine Bedrohung?« fragte Wallander.
»Es ist möglich, daß ein Bürgerkrieg ausbricht«, sagte Upitis. »Die politische Diskussion könnte in einen Amoklauf von Menschen, die nur Rache in ihren Herzen tragen, umschlagen. Die Sehnsucht nach Freiheit könnte sich in einen Alptraum verkehren, dessen Folgen niemand voraussehen kann. Ungeheuer lauern im Hintergrund, Messer werden im Schutze der Nacht gewetzt. Der Ausgang dieser Abrechnung ist genauso schwer vorauszusagen wie die Zukunft.«
Eine Aufgabe, der man sich nicht entziehen kann.
Wallander versuchte, sich zur eigentlichen Bedeutung von Upitis’ Worten vorzutasten. Aber er wußte im voraus, daß es zwecklos war. Er konnte die umwälzenden Entwicklungen, die in Europa vor sich gingen, nicht wirklich begreifen. In seiner Polizistenwelt hatte politisches Handeln niemals eine Rolle gespielt. Er ging in der Regel wählen, gleichgültig, ohne sich Gedanken zu machen. Veränderungen, die nicht unmittelbar sein eigenes Leben berührten, blieben ihm im Grunde fremd.
»Ungeheuer zu verfolgen gehört im allgemeinen nicht zu den Aufgaben eines Polizeibeamten«, sagte er zögernd in |153| einem Versuch, seine Unwissenheit zu entschuldigen. »Ich untersuche reale Verbrechen, die von realen Menschen begangen worden sind. Ich habe mich darauf eingelassen, Herr Eckers zu sein, weil ich annahm, daß Baiba Liepa mich sprechen wollte, ohne daß noch jemand dabei ist. Die lettische Polizei hat mich um Hilfe bei der Suche nach den Mördern Major Liepas gebeten. Es geht dabei vor allem darum, festzustellen, ob es einen Zusammenhang zwischen diesem Mord und dem Tod zweier Letten gibt, die in Schweden an Land gespült wurden. Jetzt sind Sie es
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