Wallander 03 - Die weisse Löwin
und trat dann hinaus auf die Verandatreppe, um zu pissen. Es regnete. Er starrte in den Nebel und dachte, daß er trotz allem zufrieden sein konnte. In einigen Stunden wären seine Probleme für diesmal gelöst. Sein Auftrag war bald erfüllt. Dann würde er Zeit haben, sich der Zukunft zu widmen. Nicht zuletzt mußte er entscheiden, ob er Tania mit nach Südafrika nehmen oder einfach zurücklassen würde, wie er es mit seiner Frau getan hatte.
Er verschloß die Tür, ging in sein Zimmer und legte sich schlafen. Er zog sich nicht aus, sondern wickelte sich lediglich in eine Decke. Tania ließ er diese Nacht in Frieden. Er brauchte Ruhe.
Sie lag wach in ihrem Zimmer und hörte, wie Konovalenko die Tür schloß und sich hinlegte. Atemlos lauschte sie. Sie hatte Angst. Im Innersten ahnte sie, daß es unmöglich sein würde, |446| das Mädchen aus dem Keller zu holen und dann das Haus zu verlassen, ohne daß Konovalenko es hörte. Ebensowenig war es möglich, die Tür zu seinem Zimmer lautlos zu verschließen. Sie hatte es bereits am Tag versucht, als Konovalenko und der Afrikaner draußen waren und in der Kiesgrube Schießübungen mit dem Gewehr abgehalten hatten. Außerdem konnte er durch das Fenster hinausgelangen, wenn die Tür verschlossen war. Sie hätte Schlaftabletten gebraucht, um sie ihm in seine Wodkaflasche zu tun. Aber so konnte sie sich nur auf sich selbst verlassen, und sie wußte, daß sie es trotz allem versuchen mußte. Tagsüber hatte sie bereits eine kleine Tasche mit Geld und wichtigen Dingen zurechtgemacht und in der Scheune versteckt. Dorthin hatte sie auch ihren Regenmantel und ein Paar Stiefel gebracht.
Sie sah auf die Uhr. Viertel nach eins. Sie wußte, daß das Treffen mit dem Polizisten im Morgengrauen stattfinden sollte. Dann mußten sie und die Tochter bereits weit weg sein. Sobald Konovalenko zu schnarchen begann, würde sie aufstehen. Sie wußte, daß Konovalenko nicht sehr tief schlief und oft aufwachte, jedoch selten während der ersten halben Stunde nach dem Einschlafen.
Noch immer war ihr nicht klar, warum sie das tat. Sie wußte, daß sie ihr Leben riskierte. Aber sie war sich selbst keine Rechenschaft schuldig. Gewisse Aufgaben stellte das Leben selbst.
Konovalenko wälzte sich hin und her und hustete. Fünf vor halb zwei. Es gab Nächte, in denen Konovalenko überhaupt nicht schlief, nur auf dem Bett lag und ruhte. Wenn das hier eine solche Nacht war, dann konnte sie dem Mädchen nicht helfen. Sie merkte, daß sie noch mehr Angst bekam. Diese Bedrohung schien ihr noch größer als die Gefahr für sich selbst.
Zwanzig Minuten vor zwei hörte sie endlich, wie Konovalenko zu schnarchen begann. Sie lauschte ungefähr eine halbe Minute. Dann stand sie vorsichtig auf. Sie war vollständig angekleidet. In der Hand hatte sie die ganze Zeit den Schlüssel gehalten, der zu dem Schloß an der Kette gehörte, mit der das Mädchen gefesselt war. Sie öffnete vorsichtig die Tür zu ihrem Zimmer und vermied es, auf die Dielen zu treten, die, wie sie |447| wußte, knarrten. Sie schlich sich in die Küche, knipste die Taschenlampe an und begann, die Falltür vorsichtig anzuheben.
Das war ein kritischer Moment; das Mädchen konnte anfangen zu schreien. Bisher war es nicht geschehen, aber es konnte passieren, das war klar. Konovalenko schnarchte. Sie lauschte. Dann stieg sie vorsichtig hinunter. Das Mädchen lag zusammengerollt. Es hatte die Augen geöffnet. Tania hockte sich hin und flüsterte, gleichzeitig strich sie ihr über das abgeschnittene Haar. Sie sagte, daß sie fliehen würden, sie müsse aber sehr, sehr leise sein. Das Mädchen reagierte nicht. Ihre Augen waren völlig ausdruckslos. Tania hatte plötzlich Angst, daß sie sich nicht mehr bewegen konnte. Vielleicht hatte der Schrecken sie gelähmt? Sie war gezwungen, sie auf die Seite zu drehen, um an das Vorhängeschloß zu kommen. Plötzlich begann das Mädchen zu treten und um sich zu schlagen. Tania gelang es gerade noch, ihm die Hand auf den Mund zu pressen, bevor es anfing zu schreien. Tania war kräftig und drückte, so stark sie konnte. Ein einziger halblauter Ruf hätte genügt, um Konovalenko zu wecken. Sie schauderte bei dem Gedanken. Konovalenko würde die Luke versperren und sie beide im Dunkeln zurücklassen. Tania flüsterte weiter, während sie den Mund zuhielt. In die Augen des Mädchens war Leben gekommen, und Tania meinte, daß sie nun begriffen hatte. Langsam nahm sie die Hand weg, öffnete das
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