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Wallander 05 - Die falsche Fährte

Wallander 05 - Die falsche Fährte

Titel: Wallander 05 - Die falsche Fährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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ein einsames Moped, das in der Nähe vorüberfuhr. Er erhob sich vom Sofa und trat an das große Erkerfenster, das aufs Meer hinausging. Die Dämmerung war schön und sehr stimmungsvoll. Der Strand unterhalb seines Hauses war leer und verlassen. Die Menschen hocken vor ihren Fernsehapparaten, dachte er. Früher saßen sie einmal da und sahen, wie ich den Nachrichtenreportern an die Kehle ging. Ich war Justizminister. Ich hätte Ministerpräsident sein sollen. Aber ich bin es nie geworden.
    Er zog die Gardinen vor und achtete sorgfältig darauf, daß kein Spalt offenblieb. Obwohl er versuchte, in seinem Haus unmittelbar östlich von Ystad so anonym wie möglich zu leben, kam es vor, daß Neugierige ihn beobachteten. Obwohl fünfundzwanzig Jahre seit seinem Abschied vergangen waren, war er noch nicht ganz vergessen. Er ging in die Küche und goß sich aus einer Thermoskanne eine Tasse Kaffee ein. Er hatte die Kanne Ende der sechziger Jahre bei einem offiziellen Besuch in Italien gekauft. Er erinnerte sich vage daran, daß es darum gegangen war, die Intensivierung der Bemühungen zu diskutieren, die Ausbreitung des Terrorismus in Europa zu verhindern. Überall in seinem Haus fanden sich Erinnerungen an das Leben, das er einst geführt hatte. Er hatte schon oft daran gedacht, alles wegzuwerfen. Doch am Ende war ihm selbst diese Anstrengung sinnlos vorgekommen.
    Mit der Kaffeetasse ging er zurück zum Sofa. Er blieb im Dunkeln sitzen und dachte an den vergangenen Tag. Am Vormittag hatte er Besuch von einer Journalistin von einer der großen Monatszeitungen gehabt, die an einer Reportageserie über Prominente und ihr Pensionärsdasein arbeitete. Warum sie beschlossen hatte, ihn zu besuchen, war ihm nicht klargeworden. Sie wurde von einem Fotografen begleitet, und sie machten draußen am |23| Strand und im Haus Bilder. Er hatte sich vorher dafür entschieden, als ein älterer, von Milde und Versöhnlichkeit geprägter Mann aufzutreten. Er hatte sein jetziges Leben als sehr glücklich dargestellt. Er lebe in größter Abgeschiedenheit, um meditieren zu können, und mit gespielter Verlegenheit hatte er sich entlocken lassen, daß er darüber nachdenke, ob er vielleicht seine Memoiren schreiben solle. Die Journalistin, die um die Vierzig war, zeigte sich beeindruckt und war voll untertänigen Respekts. Hinterher hatte er sie und den Fotografen zu ihrem Wagen begleitet und ihnen nachgewinkt, als sie fuhren.
    Mit Genugtuung dachte er daran, daß er während des ganzen Interviews vermieden hatte, ein einziges wahres Wort zu sagen. Das war auch eins der wenigen Dinge, die ihn noch interessierten. Zu betrügen, ohne entlarvt zu werden. Schein und Illusionen zu verbreiten. Nach seinen vielen Jahren als Politiker hatte er eingesehen, daß alles, was am Ende übrigblieb, die Lüge war. Die Wahrheit, verkleidet als Lüge, oder die Lüge, verkleidet als Wahrheit.
    Langsam trank er seinen Kaffee. Das Gefühl des Wohlbehagens nahm zu. Die Abende und die Nächte waren seine beste Zeit. Da verflüchtigten sich die Gedanken, die Gedanken an all das, was einmal gewesen, und alles, was verlorengegangen war. Das Wichtigste hatte ihm indessen keiner rauben können. Sein letztes Geheimnis, das niemand außer ihm selbst kannte.
    Manchmal konnte er an sich selbst wie an ein Bild in einem Spiegel denken, der zugleich konvex und konkav war. Als Mensch hatte er die gleiche Doppeldeutigkeit. Niemand hatte jemals etwas anderes gesehen als die Oberfläche, den tüchtigen Juristen, den geachteten Justizminister, den sanften Pensionär, der am schonischen Strand entlangstreifte. Niemand hatte ahnen können, daß er sein eigener Doppelgänger war. Er hatte Königen und Präsidenten die Hand geschüttelt, er hatte sich mit einem Lächeln verneigt, aber in seinem Kopf hatte er gedacht,
wenn ihr wüßtet, wer ich eigentlich bin und was ich von euch denke
. Wenn er vor den Fernsehkameras stand, hatte er stets den Gedanken –
wenn ihr nur wüßtet, wer ich bin und was ich von euch denke
– im äußersten Winkel seines Bewußtseins gehabt. Aber niemand hatte das jemals wahrgenommen. Sein Geheimnis: daß er die Partei, die er |24| vertrat, die Ansichten, die er verteidigte, die meisten Menschen, denen er begegnete, haßte und verachtete. Sein Geheimnis würde verborgen bleiben bis zu seinem Tod. Er hatte die Welt durchschaut, ihre ganze Erbärmlichkeit und die Sinnlosigkeit des Daseins erkannt. Aber niemand wußte um seine Einsicht, und so würde es bleiben. Er

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