Wallander 07 - Mittsommermord
sollen? Ich habe mich genauso gefragt wie alle anderen.«
Wallander sah, daß sie die Wahrheit sagte. »Und warum wolltest du dir das Leben nehmen?«
»Ich wollte nicht mehr leben. Gibt es denn einen anderen Grund? Meine Eltern haben mein Leben zerstört. Genauso wie sie Jörgens zerstört haben. Ich wollte nicht mehr leben.«
Wallander wartete. Vielleicht würde eine Fortsetzung kommen. Aber sie sagte nichts mehr. Er kehrte zurück zu den Geschehnissen im Reservat. Fast drei Stunden lang hielt er sie an der Hand und wanderte mit ihr durch die Vergangenheit. Er ließ keinen Stein unberührt, wie klein und unbedeutend er auch sein mochte. Er drehte sie alle um, und viele mehr als einmal. Seine |292| Rückwärtswanderung mit ihr kannte keine Grenzen. Wann hatte sie Lena Norman zum erstenmal getroffen? Welches Jahr, welcher Monat, welcher Tag? Wie hatten sie sich getroffen? Warum waren sie Freunde geworden? Wie kam ihre Freundschaft mit Martin Boge zustande? Wenn sie sich nicht erinnerte oder unsicher war, hielt er inne und begann wieder von vorn. Unsicherheit und schlechtes Gedächtnis waren immer besiegbar. Wenn man nur Geduld hatte. Die ganze Zeit über hielt er sie an, sich in Erinnerung zu rufen, ob noch jemand dabeigewesen war. Jemand, den sie vielleicht übersehen hatte.
Ein Schatten in der Ecke
, sagte er.
War da kein Schatten in der Ecke? Jemand, den du jetzt vergißt?
Er fragte nach allen eventuell unerwarteten Ereignissen. Nach und nach begann sie ihn zu verstehen und konnte ihm leichter folgen.
Kurz nach fünf Uhr beschlossen sie, bis zum nächsten Tag auf Bärnsö zu bleiben. Wallander rief Westin an und informierte ihn. Westin versprach, sie am nächsten Tag zu holen, wenn Wallander ihm Bescheid sagte. Er fragte nicht nach Isa. Doch Wallander hatte das Gefühl, daß Westin bereits gewußt hatte, daß sie sich auf der Insel befand. Nachher machten sie einen Spaziergang über die Insel. Sie führten ihr Gespräch während dieser ganzen Zeit fort. Dann und wann unterbrach sich Isa und erzählte von Stellen, an denen sie als Kind gespielt hatte. Sie gingen bis zu den äußersten Klippen auf der Nordseite. Zu seiner Verblüffung zeigte sie ihm plötzlich eine Felsspalte und behauptete, sie habe dort eines Sommers ihre Unschuld verloren. Mit wem, erfuhr er nicht.
Sie kehrten zurück, es wurde allmählich dunkel, und sie zündete im ganzen Haus Petroleumlampen an. Wallander rief in Ystad an und sprach mit Martinsson. Nichts von größerer Bedeutung hatte sich ereignet. Louise war noch immer nicht identifiziert. Er teilte Martinsson mit, daß er über Nacht auf Bärnsö bliebe. Am Tag danach würde er mit dem Mädchen nach Ystad zurückkehren.
Danach nahmen sie ihr Gespräch wieder auf.
Dann und wann machten sie eine Pause, tranken Tee und aßen Brote oder ruhten sich nur aus. Wallander ging hinaus in die Dunkelheit und pinkelte. Es rauschte in den Baumkronen. Sonst war alles sehr still. Dann machten sie weiter. Wallander hatte langsam |293| angefangen, ihre Spiele zu verstehen. Ihre Rollenspiele. Wie sie sich verkleideten, Feste feierten und zwischen verschiedenen Epochen vor und zurück wanderten. Als sie sich auf ihrer gemeinsamen rückwärts gewandten Reise dem Fest näherten, das für drei von ihnen das letzte werden sollte, ging Wallander unendlich langsam vor. Wer hatte von ihren Plänen wissen können? Niemand? Die Antwort konnte er nicht akzeptieren. Jemand mußte davon gewußt haben.
»Wir fangen noch einmal an. Noch einmal von vorn. Wann habt ihr beschlossen, ein Fest in der Zeit Bellmans zu feiern?«
Um halb zwei in der Nacht brachen sie ihr Gespräch ab. Wallander war übel vor Müdigkeit. Noch immer hatte sie ihm keinen Anhaltspunkt gegeben, wie er es sich erhofft hatte. Aber sie würden am nächsten Tag weitermachen. Sie hatten die ganze lange Autofahrt nach Ystad vor sich. Wallander hatte nicht vor, klein beizugeben.
Sie zeigte ihm ein Schlafzimmer im Obergeschoß. Sie selbst schlief unten. Sie sagte gute Nacht und gab ihm eine Petroleumlampe. Er machte sein Bett und öffnete das Fenster einen Spalt weit. Die Nacht war sehr dunkel.
Er legte sich zwischen die Laken und blies das Licht aus. Er hörte sie in der Küche klappern. Eine Tür wurde abgeschlossen. Dann wurde es still.
Wallander schlief auf der Stelle ein.
Keiner von beiden hatte das Boot bemerkt, das sich am späten Abend ohne Positionslichter über Vikfjärden der Insel näherte und mit ausgeschaltetem Motor lautlos in
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