Wallander 07 - Mittsommermord
leuchtete in die Zwischenräume. Dann näherte er sich dem Felsen. Plötzlich ahnte er, daß da eine Spalte hinter hohem Farnkraut war. Er trat vorsichtig an die Felswand, bog den Farn zur Seite und leuchtete hinein.
Sie saß zusammengekauert an der Felswand, nur im Nachthemd. Sie hatte die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, und ihr Kopf war auf die rechte Schulter gesunken. Es sah aus, als schliefe sie. Aber er wußte sofort, daß sie tot war. Jemand hatte sie erschossen. Direkt in die Stirn.
Wallanders Beine gaben nach. Das Blut schoß ihm rauschend in den Kopf. Er dachte, daß er im Begriff sei zu sterben. Und daß das nichts ausmachte. Er hatte versagt. Es war ihm nicht gelungen, das Mädchen zu beschützen. Auch das Versteck, in dem sie als Kind gespielt hatte, konnte sie nicht retten. Er hatte keinen Schuß gehört. Also mußte es eine Waffe mit Schalldämpfer gewesen sein.
Wallander kam wieder auf die Beine und stützte sich gegen einen Baum. Das Handy rutschte ihm aus der Brusttasche. Er hob es auf und taumelte zurück zum Haus. Dort rief er Martinsson an.
»Ich bin zu spät gekommen«, sagte er.
»Zu spät wofür?«
»Sie ist tot. Erschossen. Wie die anderen.«
Martinsson schien nicht richtig zu verstehen. Wallander wiederholte, was er gesagt hatte.
»Herrgott«, stöhnte Martinsson. »Wer war das?«
»Ein Mann in einem Boot. Ruf die Polizei in Norrköping an. Sie müssen ausrücken. Sprich mit der Küstenwache.«
|299| Martinsson versprach es.
»Es ist sicher das beste, wenn du gleich auch die anderen weckst«, fuhr Wallander fort. »Lisa Holgersson. Alle. Meine Batterie ist bald alle. Wenn ich hier draußen Hilfe bekommen habe, melde ich mich wieder.«
Das Gespräch endete. Wallander saß auf einem Stuhl in der Küche. Der Strahl der Taschenlampe fiel auf einen gestickten Wandschmuck: »Trautes Heim, Glück allein«. Nach einer Weile zwang er sich aufzustehen und holte eine Wolldecke aus ihrem Zimmer. Dann begab er sich wieder in die Dunkelheit hinaus. Als er zu der Spalte zwischen den Klippen kam, legte er die Decke um sie.
Er setzte sich auf einen Stein neben dem Farn, der die Öffnung verdeckte. Seine Uhr zeigte zwanzig Minuten nach drei.
In der fahlen Morgendämmerung frischte der Wind auf. Wallander hatte das Boot der Küstenwache kommen hören und war zum Anlegesteg hinuntergegangen. Es waren Polizisten dagewesen, angespannte Gesichter, die ihn mit kaum verhohlenem Mißtrauen musterten. Wallander verstand sie. Was tat eigentlich ein Polizist aus Schonen auf einer ihrer Inseln? Wäre er als Sommergast dort gewesen, hätte man es verstehen können. Er führte sie zu der Spalte zwischen den Klippen und wandte sich ab, als sie die Decke anhoben. In diesem Augenblick trat einer der Polizisten aus Norrköping zu Wallander und verlangte, seinen Polizeiausweis zu sehen. Wallander geriet vollständig außer sich. Ausnahmsweise verlor er einmal gänzlich die Fassung. Er riß seine Brieftasche aus der Jacke und warf dem Polizisten seinen Ausweis vor die Füße. Dann ging er davon. Seine Erregung legte sich sogleich wieder und wich einer lähmenden Mattheit. Er setzte sich mit einer seiner Wasserflaschen in der Hand auf die Treppe des Wohnhauses.
Dort fand ihn Harry Lundström. Er war oben bei der Klippe Zeuge von Wallanders Wutanfall gewesen und hatte es sogleich als ungewöhnlich taktlos empfunden, nach dem Polizeiausweis zu fragen. Es war klar, daß sie es mit einem Kollegen zu tun hatten. Immerhin hatte sie der Alarmruf aus dem Polizeipräsidium von Ystad erreicht.
Die Information war eindeutig gewesen. Auf einer Insel, die |300| Bärnsö hieß, befand sich ein Kriminalbeamter namens Kurt Wallander. Er hatte dort ein totes Mädchen gefunden und brauchte Hilfe.
Harry Lundström war siebenundfünfzig Jahre alt. Er war in Norrköping geboren und galt bei allen, außer sich selbst, als der tüchtigste Kriminalpolizist der Stadt. Als Wallander den Wutanfall bekam, verstand er ihn. Was der Hintergrund der Ereignisse auf Bärnsö war, wußte er nicht. Die Information aus Ystad war aus verständlichen Gründen unvollständig. Lediglich daß es mit dem Mord an einem Kollegen und an den drei Jugendlichen zu tun hatte, war ihm klar.
Doch Harry Lundström besaß Einfühlungsvermögen. Er konnte verstehen, wie man sich fühlte, wenn man ein Mädchen im Nachthemd in einer Felsenspalte findet. Mit einem Einschußloch in der Stirn.
Er hatte ein paar Minuten gewartet. Dann ging er Wallander nach
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