Wallander 07 - Mittsommermord
verließ, schob er eine Opernkassette in sein Autoradio, schaltete es aber fast sofort wieder ab. Er brauchte die Stille. Er kurbelte das Seitenfenster herunter und ließ die Nachtluft über sein Gesicht strömen. Seine Unruhe kam und ging. Irgendwo suchte er nach einer Beschwörungsformel, etwas, womit er sich überzeugen konnte, daß der Täter nicht wieder auftauchen würde. Aber er fand keinen Ruhepunkt. Der Täter würde sich dort draußen in der Dunkelheit befinden, bis sie ihn faßten. Und fassen mußten sie ihn. Er durfte keiner von den Gewaltverbrechern werden, denen es gelang, sich verborgen zu halten, und die Wallander jahrelang in seinen Träumen verfolgten.
Er dachte an einen Fall, der sich Anfang der achtziger Jahre ereignet hatte, kurz nachdem er mit Mona und Linda von Malmö nach Ystad gezogen war. Eines späten Abends hatte Rydberg angerufen und berichtet, sie seien alarmiert worden, weil auf einem Acker am Ortsrand von Borrie ein junges Mädchen tot aufgefunden worden war. Sie hatte eine große Schlagwunde auf der Stirn, und eine natürliche Todesursache schied aus. Sie waren in der Nacht hinausgefahren, es war November, und Schneeflocken schwebten in der Luft. Das Mädchen war ohne jeden Zweifel ermordet worden. Sie war nach einem Kinobesuch mit dem Bus aus Ystad gekommen, an der Haltestelle ausgestiegen und hatte eine |231| Abkürzung quer über die Äcker zu dem Hof genommen, wo sie wohnte. Als sie nicht wie verabredet nach Hause kam, war ihr Vater mit einer Taschenlampe zur Straße hinuntergegangen. Da fand er sie. Ihre Ermittlung zog sich über mehrere Jahre hin und ergab Hunderte von Seiten, die immer neue Mappen füllten. Aber es war ihnen nie gelungen, den Täter ausfindig zu machen. Sie hatten nicht einmal ein denkbares Motiv entdeckt. Die einzigen Spuren waren eine kaputte Wäscheklammer dicht neben dem Körper des Mädchens und ein paar Blutspritzer. Das war alles. Sie hatten den Fall nie aufgeklärt. Rydberg war manches Mal danach in Wallanders Zimmer gekommen und hatte angefangen, von diesem Mädchen zu sprechen. Ihm war wieder etwas Neues eingefallen. Wallander wußte, daß Rydberg manchmal an seinen freien Tagen allein im Präsidium saß und Teile des alten Ermittlungsmaterials wieder durchlas. Bis zuletzt hatte Rydberg nach einer Lösung gesucht. In der letzten Zeit im Krankenhaus, kurz bevor er an Krebs starb, war er noch einmal auf das Mädchen auf dem Acker zu sprechen gekommen. Wallander hatte es so aufgefaßt, daß Rydberg ihn mahnte, das Geschehene nicht zu vergessen. Wenn er fort war, würde Wallander derjenige sein, der vielleicht eines Tages den Fall aufklären konnte. Doch Wallander war nie ins Archiv gegangen, um die alten Akten hervorzusuchen. Er dachte selten an das Mädchen. Aber vergessen hatte er es auch nicht. Und sie tauchte immer wieder einmal in seinen Träumen auf. Es war stets das gleiche Bild. Wallander steht über sie gebeugt, Rydberg befindet sich irgendwo in einem undeutlichen Hintergrund, und sie sieht ihn an, aber sie ist gelähmt und kann nicht sprechen.
Wallander bog von der Hauptstraße ab. Ich will nicht noch drei junge Leute haben, die in meinen Träumen herumspuken, dachte er. Und Svedberg will ich da auch nicht haben. Wir müssen den oder die Täter finden.
Er hielt vor dem Naturreservat. Ein Polizeiauto parkte am Eingang. Zu Wallanders Überraschung stieg Edmundsson aus dem Wagen und kam ihm entgegen.
»Wo ist dein Hund?« fragte Wallander.
»Zu Hause«, gab Edmundsson zurück. »Warum soll der hier im Auto schlafen müssen?«
|232| Wallander nickte. »Alles ruhig?«
»Nur Nyberg. Und die Kollegen, die da drin sind.«
»Ist Nyberg hier?«
»Er ist vor einer Weile gekommen.«
Auch Nyberg wird von seiner Unruhe getrieben, dachte Wallander. Eigentlich sollte mich das nicht wundern.
»Es ist noch warm für August«, sagte Edmundsson.
»Der Herbst kommt bestimmt«, erwiderte Wallander. »Und vielleicht schneller, als man denkt.«
Er knipste seine Taschenlampe an und stieg über die äußeren Absperrungsbänder.
Dann ging er in das Reservat.
***
Der Mann hatte sich schon lange in den Schatten aufgehalten. Er war gekommen, sobald es dunkel genug geworden war. Um unbemerkt ins Reservat zu gelangen, hatte er sich von der Seeseite genähert. Er war dem Strand gefolgt, durch die Dünen hinaufgestiegen und zwischen den Büschen und Bäumen verschwunden. Weil er nicht sicher war, ob sich Polizisten mit Hunden in dem Gelände aufhielten, hatte er
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