Wallander 08 - Die Brandmauer
seinen Besuch auf der Toilette auf sich beruhen und setzte sich wieder.
Es war Viertel vor drei.
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Später sollte Wallander stets denken, daß er an jenem Nachmittag, als er in seinem Büro saß und Ann-Britt zuhörte, einen der größten Fehler seines Lebens begangen hatte. Als sie von ihrer Entdeckung berichtete, daß Sonja Hökberg sehr wohl einen Freund gehabt hatte, hätte er sogleich begreifen müssen, daß an der Geschichte etwas faul war. Ann-Britt hatte nicht die ganze Wahrheit ausgegraben, sondern nur die halbe. Und halbe Wahrheiten haben, wie er wußte, die Tendenz, sich in ganze Lügen zu verwandeln. Er sah nicht, was er hätte sehen müssen.
Sein Fehler mußte teuer bezahlt werden. In finsteren Stunden dachte Wallander, daß sein Versagen zum Tod eines Menschen beigetragen hatte. Und es hätte dazu führen können, daß eine andere Katastrophe tatsächlich eingetreten wäre.
Ann-Britt hatte sich am Montagmorgen, dem 13. Oktober, vorgenommen, den Freund aufzuspüren, der ihrer Vermutung zufolge in Sonja Hökbergs Leben existiert hatte. Sie griff den Punkt zunächst noch einmal mit Eva Persson auf. Die Unklarheit, wie Eva Persson untergebracht werden sollte, solange die Voruntersuchung andauerte, bestand weiter. Jetzt hatten sich die Staatsanwaltschaft und das Jugendamt jedoch darauf geeinigt, daß das Mädchen bis auf weiteres zu Hause bleiben sollte, aber unter Überwachung stand. Ein Grund hierfür war der Vorfall im Verhörzimmer, als der Fotograf das unselige Foto gemacht hatte. Es hätte zumindest in gewissen Kreisen einen Aufschrei der Entrüstung auslösen können, wenn man Eva Persson weiterhin im Präsidium oder im Untersuchungsgefängnis festgehalten hätte. Ann-Britt hatte also bei Eva Persson zu Hause mit dem Mädchen gesprochen. Sie hatte ihr, die jetzt weniger kalt und abweisend wirkte, klargemacht, daß sie selbst nichts zu befürchten habe, wenn sie die Wahrheit sagte. Aber Eva hatte hartnäckig darauf bestanden, daß |325| sie nichts von einem Freund wisse. Der einzige, mit dem Sonja früher einmal zusammengewesen war, sei Kalle Ryss. Ann-Britt war immer noch nicht sicher, ob Eva Persson die Wahrheit sagte. Aber sie war nicht weitergekommen und hatte schließlich aufgegeben. Bevor sie ging, hatte sie noch eine Weile unter vier Augen mit Evas Mutter gesprochen. Sie hatten bei geschlossener Tür in der Küche gestanden. Weil die Mutter mit kaum hörbarer Stimme flüsterte, vermutete Ann-Britt, daß die Tochter an der Tür lauschte. Aber auch die Mutter wußte nichts von einem Freund. Und überhaupt war alles Sonja Hökbergs Schuld gewesen. Sie hatte den armen Taxifahrer umgebracht. Ihre Tochter Eva war unschuldig. Und war noch dazu brutal von diesem schrecklichen Kriminalbeamten mißhandelt worden.
Ann-Britt hatte das Gespräch ziemlich unbeherrscht abgebrochen und danach das Haus verlassen. Sie konnte sich lebhaft das Kreuzverhör vorstellen, in das die Tochter ihre Mutter vermutlich unmittelbar nehmen würde.
Ann-Britt war auf direktem Weg zu dem Eisenwarenladen gefahren, in dem Kalle Ryss arbeitete. Sie waren ins Lager gegangen und hatten sich dort zwischen Nagelpaketen und Motorsägen unterhalten. Im Gegensatz zu Eva Persson, die pausenlos zu lügen schien, antwortete Kalle Ryss einfach und geradeheraus auf ihre Fragen. Sie gewann den Eindruck, daß er Sonja immer noch sehr gern gehabt hatte, auch wenn ihre Beziehung vor über einem Jahr zu Ende gegangen war. Er vermißte sie, trauerte um sie und war auch erschrocken über das, was passiert war. Aber er hatte nicht viel über ihr Leben gewußt, nach ihrer Trennung. Auch wenn Ystad eine kleine Stadt war, lief man seinen Bekannten nicht häufig über den Weg.
Außerdem verbrachte Kalle Ryss die Wochenenden jetzt in Malmö, wo er eine neue Freundin hatte. »Aber ich glaube, es gibt da jemanden. Einen Typ, mit dem Sonja zusammen war.«
Kalle Ryss hatte nicht viel über seinen Nachfolger gewußt, eigentlich so gut wie nichts, außer daß er Jonas Landahl hieß und ganz für sich in einem Haus in der Snapphanegata wohnte. Die Hausnummer wußte er nicht. Aber es sollte an der Ecke der Friskyttegata sein, auf der linken Seite, vom Zentrum aus gesehen. |326| Wovon Jonas Landahl lebte oder was er beruflich machte, wußte er nicht.
Ann-Britt fuhr sofort hin. Das erste Haus auf der linken Seite war ein schönes, modernes Einfamilienhaus. Sie ging durchs Gartentor und klingelte an der Haustür. Das Haus machte sogleich einen
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