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Wallander 08 - Die Brandmauer

Wallander 08 - Die Brandmauer

Titel: Wallander 08 - Die Brandmauer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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gesehen.
    »Wir holen jemanden«, sagte Lagerbladh.
    »Dann müßt ihr mir erst helfen«, sagte Wallander.
    Sie kamen mit an sein Auto. Das Mädchen hatte die Tür aufbekommen, konnte aber nicht aussteigen. Jetzt hing ihr Oberkörper aus dem Wagen. Wallander dachte, daß er so etwas noch nie gesehen hatte. Das schmutzige Haar schleifte auf dem nassen Asphalt. Die vollgekotzte Jacke. Und ihre lallenden Versuche, sich verständlich zu machen.
    »Wo hast du sie gefunden?« fragte Lagerbladh.
    »Ich hätte sie fast überfahren.«
    »Normalerweise sind sie erst am Abend voll.«
    »Ich bin nicht sicher, ob es Alkohol ist«, sagte Wallander.
    »Es kann alles mögliche sein. In dieser Stadt gibt es alles, was du dir vorstellen kannst. Heroin, Kokain, Ecstasy, was du willst.«
    Lagerbladhs Kollege war hineingegangen, um eine Rollbahre zu holen.
    »Sie kommt mir bekannt vor«, sagte Lagerbladh. »Könnte sein, daß ich sie früher schon einmal gefahren habe.«
    Er beugte sich vor und zog unsanft ihre Jacke auf. Sie protestierte nur schwach. Nach einiger Mühe fand Lagerbladh einen Ausweis.
    »Sofia Svensson«, las er. »Der Name sagt mir nichts. Aber ich kenne sie vom Sehen. Sie ist vierzehn Jahre alt.«
    Ebenso alt wie Eva Persson, dachte Wallander. Was ist eigentlich los?
    |450| Die Bahre kam. Sie hoben das Mädchen hoch. Lagerbladh schaute auf die Rückbank und verzog das Gesicht.
    »Das kriegst du nicht so leicht wieder sauber«, sagte er.
    »Ruf mich an«, sagte Wallander. »Ich will wissen, wie es ihr geht. Und was sie genommen hat.«
    Lagerbladh versprach, von sich hören zu lassen. Sie verschwanden mit der Bahre. Der Regen war stärker geworden. Wallander starrte auf seine Rückbank. Dann sah er zu, wie sich die Türen der Notfallambulanz schlossen. Eine unendliche Müdigkeit überkam ihn. Ich sehe eine Gesellschaft, die um mich her zusammenfällt, dachte er verbittert. Früher einmal war Ystad eine Kleinstadt, von fruchtbarem Ackerland umgeben. Es gab einen Hafen und ein paar Fähren, die uns mit dem Kontinent verbanden. Aber nicht zu eng. Malmö war weit weg. Was dort geschah, ging uns hier nichts an. Die Zeiten sind längst vorbei. Jetzt gibt es keine Unterschiede mehr. Ystad liegt mitten in Schweden. Bald liegt es auch mitten in der Welt. Erik Hökberg kann an seinen Computern sitzen und in weit entfernten Ländern Geschäfte machen. Und hier, wie in allen Großstädten, taumelt an einem frühen Samstagvormittag eine Vierzehnjährige umher, sinnlos betrunken oder unter Drogen stehend. Was ich eigentlich sehe, kann ich kaum sagen. Aber es ist ein Land, das geprägt ist von Heimatlosigkeit, von seiner eigenen Verwundbarkeit durchlöchert. Wenn der Strom ausfällt, bleibt alles stehen. Und diese Verwundbarkeit ist tief ins Innere jedes einzelnen gedrungen. Sofia Svensson ist nur ein Bild dafür. Genau wie Eva Persson. Und Sonja Hökberg. Und die Frage ist, was ich anderes tun kann, als sie auf meinen wirklichen oder symbolischen Rücksitz zu schleppen und sie ins Krankenhaus oder ins Polizeipräsidium zu fahren.
    Wallander ging zu einem Müllcontainer und fand dort ein paar nasse Zeitungen. Notdürftig wischte er den Rücksitz sauber. Dann ging er um den Wagen herum und sah sich den eingebeulten Kühler an. Es regnete jetzt stark. Aber es kümmerte ihn nicht, daß er naß wurde.
    Dann stieg er ein und fuhr zum zweitenmal zum Runnerströms Torg. Plötzlich mußte er an Sten Widén denken. Der seinen Hof verkaufte und wegging. Schweden ist ein Land geworden, |451| aus dem die Menschen fliehen, dachte er. Wer kann, geht weg. Zurück bleiben solche wie ich. Und Sofia Svensson und Eva Persson. Er merkte, wie empört er war. Um ihretwillen, aber auch um seiner selbst willen. Wir sind im Begriff, eine ganze Generation um ihre Zukunft zu betrügen, dachte er. Junge Menschen, die eine Schule besuchen, in der die Lehrer auf verlorenem Posten stehen, mit zu großen Klassen und schrumpfenden Mitteln. Junge Menschen, die nie auch nur eine Chance bekommen, einer sinnvollen Arbeit nachzugehen. Die nicht nur nicht gebraucht werden, sondern sich als direkt unwillkommen fühlen. In ihrem eigenen Land.
    Wie lange er so in seinen Gedanken sitzen blieb, wußte er nicht. Doch plötzlich klopfte es an das Wagenfenster. Er fuhr zusammen. Es war Martinsson, der mit seinem Lächeln und einer Tüte mit Kopenhagenern in der Hand dastand. Wallander war widerwillig froh, ihn zu sehen. Im Normalfall hätte er ihm sicher von dem Mädchen erzählt,

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