Wallander 09 - Der Feind im Schatten
wenige, die geheimnisvoll sind, wirklich etwas verbergen.«
»Und ich bin keiner von ihnen?«
»Ich glaube nicht. Habe ich recht?«
»Vielleicht trägt man ja auch Geheimnisse mit sich herum, ohne es selbst zu wissen?«
Die Lichtkegel des Taxis blendeten sie. Es war eins jener busähnlichen Fahrzeuge, die bei den Taxigesellschaften immer beliebter wurden.
»Ich hasse diese Busse«, murmelte Wallander.
»Nun reg dich nicht auf. Ich bringe dir morgen deinen Wagen.«
»Ab zehn bin ich im Präsidium. Geh jetzt rein und hör mal, was sie so von mir halten. Ich erwarte morgen einen Bericht.«
Kurz vor elf am folgenden Tag brachte sie den Wagen.
»Gut«, sagte sie, als sie in sein Zimmer trat, wie üblich ohne anzuklopfen.
»Gut, was?«
»Du gefällst ihnen. Håkan hat sich so lustig ausgedrückt. Er sagte: ›Dein Vater ist eine außerordentliche Akquisition für die Familie.‹«
»Ich weiß nicht mal, was das bedeutet.«
Sie legte die Wagenschlüssel auf den Schreibtisch. Weil sie mit den Schwiegereltern einen Ausflug machen wollten, hatte sie es eilig. Wallander warf einen Blick aus dem Fenster. Die Wolkendecke begann aufzureißen.
»Werdet ihr heiraten?«, fragte er, bevor sie aus der Tür war.
»Sie sind ganz wild darauf«, antwortete sie. »Ich wäre dir dankbar, wenn du nicht auch damit anfängst. Wir müssen erst sehen, ob wir zusammenpassen.«
»Aber ihr wollt doch Kinder haben?«
»Dazu passen wir gut genug. Aber ob wir dann das ganze Leben miteinander verbringen, ist eine zweite Frage.«
Weg war sie. Wallander lauschte ihren schnellen Schritten. Ich kenne meine Tochter nicht, dachte er. Ich war einmal der Meinung, ich täte es. Jetzt sehe ich, dass sie mir immer fremder wird.
Er stellte sich ans Fenster und blickte hinaus auf den alten Wasserturm, die Tauben, die Bäume, den blauen Himmel, der sich zwischen den auseinandertreibenden Wolken zeigte. Eine tiefe Unruhe überkam ihn, eine Leere, die sich um ihn ausbreitete. Oder war sie nicht vielmehr in ihm selbst? Als verwandelte sich sein ganzes Sein unmerklich in ein Stundenglas, durch das der Sand rieselte. Er blickte weiter auf die Tauben und die Bäume, bis seine Unruhe nachließ. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch und vertiefte sich in die Berichte.
Mitte Oktober waren Wallander und seine Kollegen so weit gekommen, dass sie bei der Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen vier verdächtigte Personen beantragen konnten. Zweivon ihnen waren polnische Staatsangehörige, die auf den Überwachungsfilmen aus dem Waffenladen identifiziert worden waren. Außerdem hatte die Polizei ausreichende Beweise gegen zwei Männer aus Göteborg. Beide hatten Kontakte zum organisierten Verbrechen, das von Einwanderern aus dem früheren Jugoslawien kontrolliert wurde. Wieder dachte Wallander an den brutalen Überfall in Lenarp vor fast zwanzig Jahren. Als herauskam, dass es sich bei den Tätern um Ausländer handelte, war es zu rassistischen Ausschreitungen gekommen, es gab Angriffe auf ein Flüchtlingslager und den Mord an einer vollkommen unschuldigen Person. Es war eine schreckliche Zeit gewesen.
Während der langen und oft trostlosen Ermittlungsarbeit hatte Wallander erkannt, dass die beiden eng mit ihm zusammenarbeitenden Kolleginnen fähige Polizistinnen waren. Sein Respekt war immer mehr gewachsen, und er hatte etwas von der Energie zurückgewonnen, die er in den letzten Jahren verloren zu haben glaubte. Besonders Kristina Magnusson imponierte ihm mit ihrem klaren Blick und ihrer Hartnäckigkeit. Er hörte nicht auf, in den Fluren des Polizeipräsidiums verstohlene Blicke auf sie zu werfen.
Im Sommer konnte Hanna Hansson aus dem Krankenhaus entlassen werden. Sie war auf einem Auge blind und hatte einen bleibenden Rückenschaden erlitten. Wallander sprach eines Tages mit einer ihrer Töchter, die bei Hörby einen Reiterhof betrieb.
»Das Auge bekommt sie nicht zurück«, sagte die Tochter, »und die Ärzte können ihre Rückenschmerzen kaum lindern. Aber wissen Sie, was das Schlimmste ist?«
»Dass ihr Mann tot ist.«
»Das ist so selbstverständlich, dass man es nicht sagen muss. Aber von dem, was unausgesprochen bleibt?«
Wallander kam nicht darauf, welche Antwort sie von ihm erwartete.
»Die Angst«, sagte die Tochter. »Sie fürchtet sich vor anderenMenschen. Sie hat Angst, aus dem Haus zu gehen, Angst, zu schlafen, Angst, allein zu sein. Wie heilt man das? Wie kann ein Täter dafür bestraft werden?«
»Ein guter Staatsanwalt
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