Wallander 09 - Der Feind im Schatten
Das war hier.«
»Ich meine etwas anderes.«
Wallander begriff plötzlich, worauf sie hinauswollte. »Hier ist ein Schlauchboot mit zwei Toten angetrieben«, sagte er. »Es ist so viele Jahre her, ich weiß nicht mehr genau, wann es war. Es waren Ereignisse, die sich in einer anderen Welt abgespielt haben, könnte man sagen.«
»Erzähl mir von dieser Welt.«
»Deshalb hast du mich wohl kaum herkommen lassen.«
»Erzähl trotzdem.«
Wallander machte eine ausladende Armbewegung zum Meer hin. »Über die Länder auf der anderen Seite wussten wir nicht viel. Wir taten wohl manchmal so, als gäbe es sie nicht. Wir waren abgeschnitten von den baltischen Staaten, die unsere nächsten Nachbarn waren. Und sie von uns. Eines Tages trieb das Schlauchboot hier an Land, und die Ermittlung führte mich nach Lettland, nach Riga. Ich machte einen Besuch hinter dem Eisernen Vorhang, den es nicht mehr gibt. Die Welt war damals anders. Nicht schlechter, nicht besser, nur anders.«
»Ich bekomme ein Kind«, sagte Linda. »Ich bin schwanger.«
Wallander hielt den Atem an, als hätte er nicht verstanden. Dann starrte er auf ihren Bauch in der schwarzen Lederkleidung.
Sie musste lachen. »Natürlich sieht man noch nichts. Ich bin erst im zweiten Monat.«
Später sollte Wallander sich an jede Einzelheit dieser Begegnung mit Linda erinnern. Sie gingen zum Strand hinunter und duckten sich gegen den Wind. Sie erzählte ihm, was er wissen wollte. Als er eine Stunde verspätet ins Präsidium zurückkam, hatte er die Ermittlung, für die er die Verantwortung trug, beinahe vergessen.
Kurz vor fünf an diesem Nachmittag, gerade bevor es wieder zu schneien begann, gelang es ihnen, die Bilder von zwei Männern zu sichern, die vermutlich in den Waffenraub und den brutalen Mord verwickelt waren. Wallander fasste zusammen, was alle fühlten: Sie waren der Aufklärung des Falls um einen großen Schritt näher gekommen.
Als die Sitzung vorüber war und alle ihre Papiere und Mappen einsammelten, hatte Wallander große Lust, von derüberwältigenden Freude zu erzählen, die ihm so plötzlich widerfahren war.
Aber natürlich sagte er nichts.
Es lag ihm ganz einfach nicht. So eng ließ er seine Kollegen nicht an sich heran, niemals.
2
Am 30. August 2007, kurz nach zwei Uhr am Nachmittag, brachte Linda im Krankenhaus von Ystad eine Tochter zur Welt, Kurt Wallanders erstes Enkelkind. Die Geburt verlief normal, es war genau der Tag, den die Hebamme errechnet hatte. Wallander hatte vorsorglich Urlaub genommen und verbrachte den Tag damit, eine brauchbare Zementmischung anzurühren, um Risse in der Mauer unter dem Verandadach neben der Außentür auszubessern. Er war nicht besonders erfolgreich, aber immerhin abgelenkt. Als das Telefon klingelte und ihm mitgeteilt wurde, dass er sich von nun an Großvater nennen könne, kamen ihm die Tränen. Das Gefühl überrumpelte ihn, für einen Augenblick war er vollständig schutzlos.
Es war nicht Linda, die anrief, sondern der Vater des Kindes, der Finanzmakler Hans von Enke. Weil Wallander sich vor ihm nicht als rührselig zeigen wollte, dankte er eilig für die Nachricht, bat ihn, Linda Grüße auszurichten, und beendete das Gespräch.
Dann machte Wallander einen langen Spaziergang mit Jussi. Noch lag die Spätsommerwärme über Schonen, in der Nacht hatte es ein Gewitter gegeben, und jetzt war die Luft frisch und leicht. Endlich konnte Wallander zugeben, wie oft er sich darüber gewundert hatte, dass Linda nie von einem Kinderwunsch gesprochen hatte. Inzwischen war sie schon siebenunddreißig, ein aus Wallanders Sicht viel zu später Zeitpunkt für eine Frau, um Mutter zu werden. Mona war wesentlich jünger gewesen, als ihre Tochter geboren wurde. Er hatte Lindas Beziehungen aus der Distanz verfolgt,einige ihrer Männer hatte er gern gemocht, andere weniger. Wenn er überzeugt gewesen war, dass sie endlich den Richtigen gefunden habe, war es eines Tages plötzlich aus, und Linda hatte nie erklärt, warum. Auch wenn Wallander und Linda ein enges Verhältnis hatten, gab es gewisse Dinge, die sie selbst in ihren vertraulichsten Stunden nicht berührten. Zu diesen tabubelegten Themen gehörte auch die Kinderfrage.
An ebenjenem Tag am Strand von Mossby hatte sie zum ersten Mal von dem Mann erzählt, mit dem sie ein Kind haben würde. Für Wallander war die Existenz dieses Mannes eine Überraschung. Er war der Meinung gewesen, Linda habe gegenwärtig keine feste Beziehung. Umso erstaunter war er
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