Wallander 09 - Der Feind im Schatten
ausgemergelten Züge noch markanter hervortreten.
»Ich selbst habe Riga nie verlassen«, sagte sie plötzlich. »Zweimal hatte ich Glück und habe durch Tausch eine bessere Wohnung bekommen. Aber für mich ist der Gedanke, auf dem Land zu leben, beinahe unerträglich. Als Kind war ich einige Jahre lang bei den Eltern meines Vaters. Es war ein Leben in Armut, das ich immer mit dem Landleben in Lettland verbinde. Es ist vielleicht ein Bild, das heute nicht mehr stimmt, aber ich werde es nicht los.«
»Du hast damals an der Universität gearbeitet. Was machst du jetzt?«
Sie antwortete nicht direkt, trank langsam und vorsichtig ihren Tee und schob dann die Tasse zur Seite. »Ich bin eigentlich Ingenieurin«, sagte sie. »Hast du das vergessen? Als wir zusammen waren, arbeitete ich an Übersetzungen für die technische Hochschule. Aber das mache ich jetzt nicht mehr. Nicht jetzt, wo ich krank bin.«
»Was ist mit dir?«
Sie antwortete still, als wäre das, worüber sie sprach, nicht besonders ernst. »Es ist tödlich. Ich habe Krebs. Aber ich möchte nicht weiter darüber sprechen. Kann ich mich ein wenig hinlegen und mich ausruhen? Ich nehme schmerzstillende Mittel, die so stark sind, dass ich davon fast einschlafe.«
Sie ging zum Sofa, aber Wallander lotste sie ins Schlafzimmer, wo er vor einigen Tagen das Bettzeug gewechselt hatte. Er strich das Bett glatt, bevor sie sich hinlegte. Ihr Kopf verschwand fast im Kissen.
Sie lächelte schwach, wie von einer Erinnerung. »Habe ich in diesem Bett nicht schon einige Mal gelegen?«
»Du hast ganz recht. Das Bett ist alt.«
»Dann denke ich daran und schlafe eine Weile. Nur eine Stunde. Im Präsidium sagten sie, du hättest Urlaub.«
»Du kannst schlafen, so lange du willst.«
Er war nicht sicher, ob sie ihn noch hörte oder ob sie schon eingeschlafen war. Warum kommt sie zu mir?, dachte er. Mehr Tod und Elend ertrage ich nicht, Frauen, die sich totsaufen, Schwiegermütter, die ermordet werden. Er schämte sich sofort des Gedankens, setzte sich vorsichtig auf die Bettkante am Fußende und sah sie an. Die Erinnerung an die große Liebe kehrte zurück und wühlte ihn so auf, dass er beinahe bebte. Ich will nicht, dass sie stirbt, dachte er, ich will, dass sie am Leben bleibt. Vielleicht wäre sie heute bereit, noch einmal mit einem Polizisten zusammenzuleben?
Wallander ging nach draußen und setzte sich auf einen der Gartenstühle. Nach einer Weile ließ er Jussi aus seinem Zwinger. Baiba war in einem alten Citroën mit lettischem Kennzeichen gekommen. Er schaltete sein Handy ein und sah, dass Linda angerufen hatte.
Sie freute sich, seine Stimme zu hören. »Ich wollte nur erzählen, dass Hans einen Bonus bekommt. Ein paar hunderttausend Kronen. Das bedeutet, dass wir das Haus umbauen können.«
»Hat er das Geld wirklich verdient?«, fragte Wallander säuerlich.
»Warum denn nicht?«
Wallander erzählte, dass Baiba zu Besuch gekommen war. Linda hörte zu, wie er von der Frau erzählte, die jetzt in seinem Bett lag und schlief.
»Ich habe ein Foto von ihr gesehen«, sagte Linda. »Du hast von ihr erzählt, vor vielen Jahren. Aber Mama zufolge war sie nur eine lettische Prostituierte.«
Wallander wurde wütend. »Deine Mutter kann manchmal wirklich ekelhaft sein. So etwas zu behaupten ist schäbig. Baiba hat in vieler Hinsicht genau die Qualitäten, die Mona fehlen. Wann hat sie das gesagt?«
»Wie soll ich das noch wissen?«
»Ich werde sie anrufen und ihr sagen, dass sie nie wieder Kontakt zu mir aufnehmen soll.«
»Was wird denn davon besser? Sie war wahrscheinlich eifersüchtig. Dann sagt man so etwas.«
Wallander sah widerwillig ein, dass Linda recht hatte, und beruhigte sich. Jetzt erzählte er ihr auch, dass Baiba krank war.
»Ist sie gekommen, um Adieu zu sagen?«, fragte Linda. »Das klingt traurig.«
»Es war auch mein erster Gedanke. Ich war erstaunt und erfreut zugleich, sie zu sehen. Aber dann dauerte es nur ein paar Minuten, bis ich niedergeschlagen war. Ich habe im Moment das Gefühl, als wäre ich nur von Tod und Elend umgeben.«
»Das Gefühl hattest du immer«, sagte Linda. »Es war das Erste, worüber wir an der Polizeihochschule gesprochen haben. Was für ein Berufsleben würde uns in der Zukunft erwarten? Aber vergiss nicht, jetzt hast du Klara.«
»Das meine ich nicht«, sagte Wallander. »Es ist das Gefühl des Alters, das sich anschleicht und die Klauen nach meinem Nacken ausstreckt. Die Reihen der Freunde um mich her werden sich
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