Wallander 09 - Der Feind im Schatten
gewöhnen, vielleicht hieß sie Anna, er war nicht sicher.
»Hier ist eine Frau, die deine Adresse haben möchte«, sagte sie. »Ich will sie ihr aber nur geben, wenn du einverstanden bist. Sie ist Ausländerin.«
»Natürlich«, sagte Wallander. »Alle Frauen, die ich kenne, sind Ausländerinnen.«
Er blieb am Telefon und konnte beim dritten Anlauf einen Zahnarzt erreichen, der ihm noch am gleichen Vormittag einen Termin gab.
Es war beinahe zwölf, als er von seinem Zahnarztbesuch zurückkam. Er dachte schon ans Mittagessen, als es an der Haustür klopfte. Er wusste sofort, wer die Frau vor der Tür war, obwohl sie sich verändert hatte. Es waren viele Jahre vergangen, seit er sie zuletzt gesehen hatte, Baiba Liepa aus Riga in Lettland. Aber sie war es, wenn auch älter und blasser.
»Herrgott«, sagte er. »Du warst es also, die nach meiner Adresse gefragt hat?«
»Ich will nicht stören.«
»Wieso solltest du stören?«
Er zog sie an sich, umarmte sie und spürte, dass sie sehr mager geworden war. Fünfzehn Jahre waren vergangen seit ihrer kurzen und intensiven Liebesgeschichte. Und es war sicher zehn Jahre her, seit sie zuletzt voneinander gehört hatten. Da war Wallander betrunken gewesen und hatte sie mitten in der Nacht angerufen. Hinterher hatte er es natürlich bereut und sich vorgenommen, sie nie wieder zu behelligen. Aber als sie jetzt vor ihm stand, wallten die Gefühle wieder auf. Es war die größte Leidenschaft seines Lebens gewesen. Die Begegnung mit ihr hatte ihm seine lange Beziehung zu Mona in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Mit Baiba hatte er eine Sinnlichkeit erlebt, wie er sie vorher nicht für möglich gehalten hatte. Damals war er bereit gewesen, ein neues Leben zu beginnen. Er hatte sie heiraten wollen, aber sie hatte nein gesagt. Sie wollte nicht noch einmal mit einem Polizisten zusammenleben und vielleicht ein zweites Mal Witwe werden.
Jetzt standen sie sich in seinem Wohnzimmer gegenüber. Er konnte kaum glauben, dass es wirklich Baiba war, die zurückgekommen war, von irgendwoher, weit entfernt in Zeit und Raum.
»Ich habe nicht geglaubt, dass wir uns einmal wiedersehen würden«, sagte er.
»Du hast nie von dir hören lassen.«
»Nein. Das stimmt. Ich habe eingesehen, dass es vorbei war.«
Er führte sie zum Sofa und setzte sich neben sie. Plötzlich befiel ihn eine Ahnung, dass mit ihr nicht alles stimmte. Sie war zu blass, zu mager, vielleicht auch zu müde und zu schwerfällig in den Bewegungen.
Sie las seine Gedanken, wie sie es immer getan hatte, und nahm seine Hand. »Ich wollte dich treffen«, sagte sie. »Man glaubt, dass Menschen für immer verschwunden sind. Abereines Tages wacht man auf und weiß, dass nichts vorbei ist. Von Menschen, die einem viel bedeutet haben, kann man sich nie ganz und gar befreien.«
»Du hast einen besonderen Grund dafür, dass du kommst«, sagte Wallander. »Dass du überhaupt kommst und dass du jetzt kommst.«
»Ich möchte gern einen Tee«, sagte sie. »Bist du sicher, dass ich nicht störe?«
»Hier ist nur ein Hund«, sagte Wallander. »Das ist alles.«
»Wie geht es deiner Tochter?«
»Weißt du noch ihren Namen?«
Baiba sah gekränkt aus. Wallander fiel ein, wie leicht sie gekränkt war.
»Dachtest du wirklich, ich hätte Linda vergessen?«
»Ich dachte eher, dass alles, was mit mir zu tun hatte, ausgelöscht wäre.«
»Eins an dir hat mir nie gefallen. Dass du so dramatisch werden konntest, wenn es um etwas Ernstes ging. Wie sollte man einen Menschen, den man einmal geliebt hat, ›auslöschen‹ können?«
Wallander war aufgestanden und ging in die Küche, um Tee zu machen.
»Ich komme mit in die Küche«, sagte sie.
Als Wallander sah, welche Anstrengung sie das Aufstehen kostete, wusste er, dass sie krank war.
Sie nahm einen Topf und setzte Teewasser auf, als fühlte sie sich in seiner Küche sofort zu Hause. Er holte die Tassen heraus, die er von seiner Mutter geerbt hatte, das Einzige, was ihm von ihr geblieben war. Sie setzten sich an den Küchentisch.
»Du wohnst schön«, sagte sie. »Ich erinnere mich, dass du schon immer aufs Land hinausziehen wolltest. Aber ich habe dir wohl nie geglaubt.«
»Ich habe selbst nicht geglaubt, dass einmal etwas daraus würde. Oder dass ich mir einen Hund anschaffen würde.«
»Wie heißt sie?«
»Es ist ein Rüde. Er heißt Jussi.«
Das Gespräch verebbte. Er betrachtete sie verstohlen. Das kräftige Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel, ließ ihre
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