Wallander 09 - Der Feind im Schatten
an seine ungeschickte Art gewöhnt hatte, die jedoch äußerst selten böse gemeint war.
»Nein«, sagte Baiba. »Angst habe ich nicht. Meine Zeit ist zu kurz. Ich kann sie nicht mit etwas vergeuden, was alles nur schlimmer macht.«
Sie stand auf und ging durch sein Haus. Beim Bücherregal blieb sie stehen. Sie hatte ein Buch über Lettland entdeckt, das sie ihm geschenkt hatte. »Hast du es jemals geöffnet?«, fragte sie lächelnd.
»Viele Male«, entgegnete Wallander.
Und das stimmte.
Später sollte Wallander die vierundzwanzig Stunden mit Baiba als einen Raum empfinden, in dem alle Uhren stehen geblieben zu sein schienen und alle Bewegungen aufgehört hatten. Sie aß sehr wenig, lag meistens auf dem Bett, mit einem Laken zugedeckt, gab sich ihre Spritzen und wollte ihnin der Nähe haben. Er legte sich zu ihr, sie wachten, redeten, waren ebenso oft still, wenn sie zu müde wurde für ein Gespräch oder ganz einfach eingeschlafen war. Manchmal schlief auch Wallander ein und fuhr nach ein paar Minuten mit einem Ruck hoch, nicht gewohnt, jemanden so nah bei sich zu haben.
Sie sprachen von den Jahren, die vergangen waren, von der erstaunlichen Entwicklung, die in ihrem Land stattgefunden hatte.
»Damals wussten wir nichts«, sagte sie. »Erinnerst du dich an die sowjetischen Schwarzen Baskenmützen, die bei manchen Gelegenheiten in Riga wie wild um sich schossen? Heute gestehe ich, dass ich damals nicht daran geglaubt habe, die Sowjets würden uns loslassen. Ich stellte mir vor, die Unterdrückung würde noch härter werden. Am schlimmsten war, dass niemand wusste, wem er trauen konnte. Hatten unsere Nachbarn einen Vorteil von unserer Freiheit? Oder fürchteten sie sie? Wer berichtete dem KGB, der überall präsent war – ein einziges riesiges Ohr, dem niemand entgehen konnte? Heute weiß ich, dass ich mich geirrt habe, und ich bin dankbar dafür. Allerdings weiß keiner, wohin Lettlands Weg führt. Der Kapitalismus löst nicht die Probleme des Sozialismus oder der Planwirtschaft, die Demokratie löst auch nicht alle wirtschaftlichen Krisen. Ich glaube, dass wir im Moment über unsere Verhältnisse leben.«
»Spricht man nicht von den Baltischen Tigern?«, fragte Wallander. »Staaten, die ebenso erfolgreich sind wie die Länder in Asien?«
Sie schüttelte mit finsterer Miene den Kopf. »Wir leben von geliehenem Geld. Nicht zuletzt schwedischem Geld. Ich sage nicht, dass ich besonders viel von Wirtschaft verstehe. Aber ich bin sicher, dass schwedische Banken in meinem Land große Kredite gegen unzureichende Sicherheiten vergeben. Und das kann nur auf eine Art enden.«
»Schlecht?«
»Sehr schlecht. Vor allem für die schwedischen Banken.«
Wallander dachte an die frühen neunziger Jahre, als Baiba und er sich geliebt hatten. Er erinnerte sich an die Angst, mit der offensichtlich alle kämpften. Vieles von dem, was damals geschehen war, hatte er eigentlich noch immer nicht verstanden. An der Oberfläche hatte ein umfassender politischer Prozess Europa und damit auch das Kräfteverhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion dramatisch verändert. Wallander hatte damals, bevor er nach Lettland gefahren war, um zur Lösung des Falles der im Schlauchboot angetriebenen toten Männer beizutragen, nicht viel darüber nachgedacht, dass drei von Schwedens nächsten Nachbarn von einer fremden Macht besetzt waren. Wie war es zu erklären, dass so viele in seiner Generation, der nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen, nie ganz begriffen hatten, dass der Kalte Krieg wirklich ein Krieg war, in dem Länder besetzt und Völker unterdrückt wurden? In vieler Hinsicht konnte es in den sechziger Jahren so scheinen, als läge das ferne Vietnam näher an der schwedischen Grenze als das Baltikum.
»Es war auch für uns schwer zu verstehen«, sagte Baiba spät in der Nacht, als das Dämmerungslicht bereits den Himmel heller färbte. »Hinter jedem Letten stand ein Russe, sagten wir immer. Aber hinter jedem Russen stand auch jemand.«
»Wer?«
»Auch in den baltischen Staaten wurde das russische Denken davon gelenkt, was die USA in der Welt taten.«
»Hinter jedem Russen stand also ein Amerikaner?«
»So kann man es natürlich ausdrücken. Aber niemand wird es erfahren, bevor nicht russische Historiker die eigentliche Geschichte aufgearbeitet haben, was damals geschah.«
Irgendwo, in diesem tastenden Gespräch über eine lange vergangene Zeit, endete auch ihre Begegnung. Wallander schlief ein. Als er zum letzten Mal auf
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