Wallander 09 - Der Feind im Schatten
den er für den Rest seines Lebens tragen könne.
»Die Hochzeiten werden weniger«, sagte sie. »In deinem Alter gibt es häufiger Beerdigungen.«
Er bezahlte und murmelte etwas Unverständliches. Linda fragte nicht nach.
Wallander stieg aus dem Taxi und betrat mit seinem kleinen Koffer die Rezeption des Hotels Latvia. Das Café, in dem Lilja Blooms ihn und Baiba beobachtet hatte, existierte nicht mehr. Er checkte ein und bekam Zimmer 1516. Als er aus dem Aufzug trat und vor der Zimmertür stand, hatte er plötzlich das Gefühl, dass es genau dieses Zimmer war, in dem er bei seinem ersten Aufenthalt in Riga gewohnt hatte. Er erinnerte sich mit Bestimmtheit, dass seine damalige Zimmernummer die Ziffern 5 und 6 enthalten hatte. Er schloss auf und trat ein. Hier drinnen sah es nicht mehr so aus wie damals. Aber der Blick aus dem Fenster war unverändert, eine schöne Kirche, deren Name ihm entfallen war. Er packte den Koffer aus und hängte den neuen Anzug auf einen Bügel. Der Gedanke, dass es dieses Hotel, ja vielleicht sogar dieses Zimmer war, wo er Baiba zum ersten Mal getroffen hatte, bereitete ihm einen heftigen Schmerz.
Er ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Es war erst halb eins. Er hatte keine Pläne, hatte vielleicht nur im Sinn, einen Spaziergang zu machen. Er wollte um Baiba trauern, indem er sich an sie erinnerte, wie sie bei ihrer ersten Begegnung gewesen war.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke, dem er sich noch nie zu stellen gewagt hatte. War seine Liebe zu Baiba stärker gewesen als die, die er einmal für Mona empfunden hatte? Obwohl Mona Lindas Mutter war?
Er ging hinaus, streifte durch die Stadt, aß in einem Restaurant,ohne wirklich hungrig zu sein. Am Abend setzte er sich im Hotel in eine Bar. Ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren trat zu ihm und fragte, ob er Gesellschaft wünsche. Er antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf. Kurz bevor das Restaurant des Hotels schloss, bestellte er noch ein Spaghettigericht, rührte es jedoch kaum an. Er trank Rotwein und war angetrunken, als er vom Tisch aufstand.
Es hatte inzwischen geregnet, aber jetzt hatte es sich wieder aufgeklärt. Er suchte den Weg zum Freiheitsdenkmal, vor dem Baiba und er einmal fotografiert worden waren. Einige Jugendliche fuhren Skateboard auf der Steinplatte vor dem Denkmal. Er ging weiter und kam erst spät wieder ins Hotel zurück. Er schlief auf dem Bett ein, ohne mehr als die Schuhe ausgezogen zu haben.
Am Morgen erwachte er von einem Klopfen an der Tür. Er fuhr aus dem Schlaf hoch und dachte verwirrt, es sei Baiba, die vor der Tür stand. Aber als er aufmachte, sah er eine junge Frau. Er wurde ärgerlich und dachte, wie abscheulich es war, dass zu jeder Tages- und Nachtzeit junge Prostituierte aufkreuzen konnten. Er wollte die Tür zuschlagen, als etwas im Gesicht des Mädchens ihn zögern ließ.
»Kurt Wallander?«, fragte sie. »Sie kennen mich nicht. Aber Sie haben meine Mutter gekannt.«
Wallander zögerte immer noch, ließ sie aber schließlich eintreten. Hatte Baiba eine Tochter gehabt, von der er nichts wusste? Einen kurzen und angsterfüllten Augenblick lang fragte er sich sogar, ob es sein eigenes Kind sein konnte. Aber er verwarf den Gedanken. Das hätte Baiba ihm erzählt. Er zeigte auf den Sessel und setzte sich selbst auf die Bettkante. Sie hatte blondes Haar, war vielleicht achtzehn, neunzehn Jahre alt, einfach gekleidet, ungeschminkt.
»Ich heiße Vera«, sagte sie. »Meine Mutter hieß Ines.«
Im selben Augenblick wusste er Bescheid. Ines, Baibas Freundin, die er bei seinem ersten Besuch in Riga getroffenhatte. Sie hatte ihn abgeholt zu einem seiner nächtlichen Besuche bei einer politischen Untergrundgruppe, die ihn um Beistand gebeten hatte. Und er hatte sie bei einer wilden Schießerei sterben sehen, als das Lokal, in dem die Widerstandsgruppe sich aufhielt, angegriffen wurde. Er sah sie noch recht genau vor sich, blutend, über einem umgestürzten Stuhl zusammengesunken.
»Ja«, sagte er. »Ich habe Ihre Mutter getroffen. Ich kannte sie nicht. Aber ich weiß, dass sie Baibas Freundin war.«
»Lilja sagte, Sie kämen zur Beerdigung. Ich war erst zwei Jahre alt, als meine Mutter starb. Ich will Ihnen nicht lästig fallen. Ich wollte Sie nur sehen, weil Sie einmal meine Mutter getroffen haben und ich selbst keine Erinnerung an sie habe.«
»Ich erinnere mich daran, dass sie sehr schön war«, sagte Wallander. »Und mutig und stark.«
»Stimmt es, dass Sie dabei waren, als sie
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