Wallander 09 - Der Feind im Schatten
ihn im verbleibenden Teil seines Lebens erwartete.
Sie erreichten die Kapelle und traten ins Dunkel ein, das durch das Sonnenlicht draußen noch verstärkt wurde. Es dauerte eine Weile, bis Wallanders Augen sich daran gewöhnt hatten.
In diesem Augenblick stellte er sich vor, Baiba Liepas Beerdigung sei eine Art Vorübung zu seiner eigenen. Das machte ihm Angst, und beinahe wäre er aufgestanden und gegangen. Er hätte nicht nach Riga fahren sollen, er hatte hier nichts zu suchen.
Aber er blieb und schaffte es, hauptsächlich dank des Alkohols, den er getrunken hatte, nicht in Tränen auszubrechen, nicht einmal, als er merkte, wie traurig Lilja Blooms neben ihm war. Der Sarg war wie eine ins Meer geworfene Insel, ein Versteck und der letzte Ruheplatz eines Menschen, den er einmal geliebt hatte.
Aus einem unerfindlichen Grund sah er auf einmal Håkan von Enke vor sich. Irritiert schob er den Gedanken von sich.
Der Wodka begann Wirkung zu zeigen. Es kam Wallander so vor, als ginge die Trauerfeier ihn eigentlich nichts an. Als sie vorüber war und Lilja Blooms zu Baibas Mutter ging, um sie zu begrüßen, verließ Wallander leise die Kapelle. Er wandte sich nicht um, ging auf kürzestem Weg ins Hotel und bat an der Rezeption um Unterstützung bei der Umbuchung seines Flugs. Sein Plan war gewesen, bis zum nächsten Tag zu bleiben, aber jetzt wollte er so schnell wie möglich fort. Es gab noch einen Platz auf einem Nachmittagsflug nach Kopenhagen. Er packte seinen Koffer, behielt den Beerdigungsanzug an und verließ das Hotel in einem Taxi, da er fürchtete, Lilja Blooms würde nach ihm suchen. Fast dreiStunden saß er vor dem Flughafengebäude auf einer Bank, bevor es Zeit war, durch die Sicherheitskontrolle zu gehen.
An Bord der Maschine trank er weiter. In Ystad nahm er ein Taxi nach Hause und wäre beinahe umgefallen, als er aus dem Wagen stieg. Jussi war wie üblich bei den Nachbarn, und er beschloss, ihn erst am nächsten Tag zu holen.
Er fiel ins Bett, schlief fest und fühlte sich ausgeruht, als er am Morgen kurz vor neun aufwachte. Jetzt überkam ihn tiefe Scham darüber, dass er aus der Kapelle geflohen war, ohne sich von Lilja zu verabschieden. Er würde sie in ein paar Tagen anrufen und eine plausible Entschuldigung vorbringen. Aber was konnte er ihr sagen?
Später fühlte Wallander sich unwohl. Nirgendwo fand er Kopfschmerztabletten, obwohl er das Badezimmer und sämtliche Küchenschubladen durchsuchte. Weil er sich nicht überwinden konnte, nach Ystad hineinzufahren, fragte er seine nächste Nachbarin, ob sie Tabletten habe. Er nahm sie, in einem Glas Wasser aufgelöst, in ihrer Küche und bekam noch ein paar für zu Hause mit.
Als er zurückkam, sperrte er Jussi ein. Im Haus blinkte der Anrufbeantworter. Sten Nordlander hatte angerufen. Wallander suchte seine Handynummer heraus und rief ihn an.
Es wehte kräftig um Sten Nordlander, als er sich meldete. »Ich rufe zurück«, rief er. »Ich muss nur erst einen Platz in Lee aufsuchen.«
»Ich bin zu Hause.«
»In zehn Minuten. Geht es dir gut?«
»Ja.«
»Bis später.«
Wallander setzte sich an den Küchentisch und wartete. Jussi trabte in seinem Zwinger umher und schnüffelte, ob Mäuse oder Vögel zu Besuch gewesen waren. Manchmal warf er einen Blick zum Küchenfenster hinüber. Wallanderhob die Hand und winkte. Jussi reagierte nicht, er sah ihn nicht, wusste nur, dass Wallander dort drinnen war. Wallander öffnete das Fenster. Sofort wedelte Jussi mit dem Schwanz und richtete sich auf den Hinterbeinen am Zaun auf.
Das Telefon klingelte. Sten Nordlander hatte einen Platz in Lee gefunden, die Windgeräusche waren fort. »Ich bin auf See«, sagte er. »Auf einer kleinen Insel, kaum mehr als eine kahle Schäre, in der Nähe von Möja. Weißt du, wo das liegt?«
»Nein.«
»Ganz weit draußen in den Stockholmer Schären. Es ist sehr schön.«
»Gut, dass du angerufen hast«, sagte Wallander. »Es ist etwas passiert. Ich hätte mich selbst auch gemeldet. Håkan hat sich gezeigt.«
Wallander erzählte rasch, was geschehen war.
»Merkwürdig!«, sagte Sten Nordlander. »Gerade als ich hier auf der Schäre an Land ging, musste ich an ihn denken.«
»Aus einem besonderen Grund?«
»Er liebte Inseln. Einmal hat er mir erzählt, er habe als junger Mann davon geträumt, Inseln in allen Weltmeeren zu besuchen.«
»Hat er jemals versucht, sich den Traum zu erfüllen?«
»Ich glaube nicht. Louise flog nicht gern, und Schiffsreisen mochte sie
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