Wallander 09 - Der Feind im Schatten
eingeschlafen? Oder hatte sie den Wagen mit voller Absicht von der Straße herunter und in den Tod gelenkt? Wallander wusste, dass Autounfälle ohne Beifahrer nicht selten verdeckte Selbstmorde waren. Eine frühere Büroangestellte bei der Polizei in Ystad, eine geschiedene Frau mit Alkoholproblemen, hatte vor wenigen Jahren diesen Weg gewählt. Aber er glaubte nicht, dass Baiba so etwas getan hätte. Ein Mensch, der sich entschließt, umherzureisen und sich von Freunden und Liebhabern zu verabschieden, setzt seinem Leben kaum auf die Weise ein Ende, dass er einen Autounfall inszeniert. Sie war müde gewesen und hatte die Kontrolle über den Wagen verloren, eine andere Erklärung konnte er sich nicht vorstellen.
Er griff zum Telefon, um Linda anzurufen, weil er mit dem, was geschehen war, nicht allein bleiben konnte. Es gab Augenblicke, da musste er ganz einfach jemanden in seiner Nähe haben. Er wählte die Nummer, drückte jedoch auf Aus, als es am anderen Ende zu klingeln begann. Es war zu früh, er hatte noch nichts, was er ihr sagen konnte. Er warf das Handy aufs Sofa, ging hinaus zu Jussi und ließ ihn aus dem Zwinger, setzte sich auf den Boden und streichelte ihn. Es klingelte. Er stürzte ins Haus. Es war Lilja. Sie war jetzt ruhiger, er stellte ihr Fragen und bekam ein deutlicheres Bild davon, was passiert war.
Ihn bewegte natürlich auch eine andere Frage. »Warum rufen Sie mich an? Woher haben Sie meine Nummer?«
»Baiba hatte mich darum gebeten.«
»Um was gebeten?«
»Sie anzurufen, wenn sie tot wäre. Aber ich habe natürlich nicht gedacht, dass es so schnell ginge. Baiba glaubte, dass sie ungefähr noch bis Weihnachten leben würde.«
»Zu mir sagte sie, sie hoffe, noch bis zum Herbst zu leben.«
»Sie hat nicht immer ganz dasselbe gesagt. Ich glaube, sie wollte ihre Freunde in der gleichen Unsicherheit lassen, die sie auch empfand.«
Lilja erzählte, sie sei eine alte Freundin und Kollegin von Baiba. Sie kannten sich seit ihrer Teenagerzeit. »Ich wusste von Ihnen«, sagte sie. »Eines Tages rief Baiba mich an und sagte: ›Jetzt ist er in Riga, mein Freund aus Schweden. Ich bin heute Nachmittag mit ihm im Hotel Latvia im Café verabredet. Wenn du hingehst, kannst du ihn sehen.‹ Ich bin hingegangen und habe Sie gesehen.«
»Vielleicht hat Baiba Ihren Namen einmal erwähnt. Ich glaube schon. Aber begegnet sind wir uns also nicht?«
»Nein. Aber ich habe Sie gesehen. Baiba mochte Sie sehr. Damals hat sie Sie geliebt.«
Sie weinte wieder. Wallander wartete. In der Ferne grollte der Donner. Er hörte, wie sie hustete und sich die Nase putzte.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte er, als sie wieder ans Telefon kam.
»Ich weiß nicht.«
»Wer sind ihre nächsten Angehörigen?«
»Ihre Mutter und ihre Geschwister.«
»Wenn ihre Mutter noch lebt, muss sie sehr alt sein. Ich erinnere mich nicht, dass sie jemals von ihr erzählt hat.«
»Sie ist fünfundneunzig Jahre alt. Aber sie ist klar im Kopf. Sie hat verstanden, dass ihre Tochter tot ist. Sie hatten seit Baibas Kindheit ein schwieriges Verhältnis.«
»Ich möchte wissen, wann die Beerdigung ist«, sagte Wallander.
»Ich rufe Sie an.«
»Was hat sie von mir gesagt?«, fragte Wallander zuletzt.
»Nicht viel.«
»Etwas muss sie doch gesagt haben.«
»Ja. Aber nicht viel. Obwohl wir Freundinnen waren. Baiba hat nie jemanden ganz an sich herangelassen.«
»Ich weiß«, sagte er. »Ich kannte sie auch, wenn auch auf eine ganz andere Weise als Sie.«
Nach dem Gespräch legte er sich aufs Bett und blickte an die Decke, an der vor einigen Monaten ein feuchter Fleck aufgetaucht war. Er lag sehr lange so da, bevor er zum Küchentisch zurückkehrte.
Kurz nach acht rief er Linda an und erzählte, was geschehen war. Er konnte nur mit großer Mühe sprechen und spürte eine Verzweiflung in sich, die er fast nicht ertragen konnte.
29
Am 14. Juli um elf Uhr fand die Trauerfeier für Baiba Liepa in einer Grabkapelle im Zentrum von Riga statt. Wallander war am Vortag mit einem Flugzeug aus Kopenhagen gekommen. Als er aus dem Flugzeug stieg, kannte er sich gleich wieder aus, obwohl das Terminal umgebaut worden war. Die sowjetischen Armeeflugzeuge, die damals, Anfang der neunziger Jahre, auf dem Flugplatz gestanden hatten, waren jetzt verschwunden. Durch die Scheiben des Taxis sah er eine veränderte Stadt. Außerhalb des eigentlichen Stadtkerns sah er hier und da noch verfallene Bauernhöfe und Schweine, die in Misthaufen wühlten.
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