Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wallander 09 - Der Feind im Schatten

Wallander 09 - Der Feind im Schatten

Titel: Wallander 09 - Der Feind im Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
starb?«
    Die Frage kam schnell und ohne Zögern. Wallander nickte.
    »Ich frage alle, die ich treffe und die irgendwelche Erinnerungen haben könnten. Es gibt immer eine Einzelheit, die anders ist, einen Eindruck, der sich vertieft, oder vielleicht etwas, was ich noch nicht wusste.«
    »Es ist so lange her. Ich weiß nicht mehr, woran ich mich wirklich erinnere und woran ich mich nur zu erinnern glaube.«
    Er versuchte, ihr seine Erinnerungsbilder so anschaulich zu schildern, wie er sich Ereignisse und einzelne Momente zu vergegenwärtigen vermochte. Er versuchte auch, so ehrlich wie möglich zu sein. Aber als er zu dem Augenblick kam, da Ines tot über dem umgestürzten Stuhl lag, sagte er nur, dass sie sicher sofort tot gewesen sei, als sie von den Schüssen getroffen wurde.
    Sie stellte weitere Fragen. Aber er hatte alles gesagt, woran er sich erinnerte, und konnte ihr keine weiteren Antwortengeben. Vera stand auf und strich ihren weißen Rock glatt. Einen kurzen Moment lang meinte Wallander zu sehen, dass sie ihrer Mutter ähnlich war. Aber er war sich nicht sicher, er konnte sich täuschen.
    »Wer ist Ihr Vater?«, fragte er.
    »Ich weiß es nicht. Mama hat zu Baiba gesagt, sie würde es mir erzählen, wenn ich größer wäre. Aber nicht einmal Baiba wusste es, Ines hatte ihren Freundinnen nichts verraten. Manchmal denke ich, er kam vielleicht aus der Sowjetunion.«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Meine Mutter hat nie gesagt, wer er war. Sie schämte sich vielleicht seinetwegen. Danke, dass Sie mich hereingelassen haben. Ich habe Ihnen angesehen, dass Sie die Tür zuschlagen wollten. Dachten Sie, ich wäre käuflich? Haben Sie uns gegenüber wirklich solche Vorurteile?«
    »Ich weiß nicht, was ich gedacht habe.«
    »Lilja bat mich, Ihnen zu sagen, dass sie um zehn Uhr zu Ihnen kommt. Sie begleitet Sie zur Grabkapelle.«
    Er brachte sie zur Tür und sah ihr nach, als sie den Korridor entlang zum Aufzug ging. Dann zog er seinen Beerdigungsanzug an und ging hinunter in den Speisesaal, um zu frühstücken, obwohl er nicht hungrig war.
    Auf dem Flugplatz Kastrup hatte er zwei halbe Flaschen Wodka gekauft. Eine davon trug er in einer Innentasche. Im Aufzug nach unten schraubte er den Deckel ab und trank einen Schluck.
     
    Wallander stand in der Rezeption, als Lilja Blooms durch die Glastüren kam. Sie entdeckte ihn sofort und trat auf ihn zu. Baiba musste ihr eins der wenigen existierenden Fotos gezeigt haben, dachte er.
    Lilja war klein und rundlich und trug die Haare fast kurz geschoren. Sie sah ganz anders aus, als er sie sich vorgestellt hatte. In seiner Vorstellung war sie Baiba ähnlich. Als siesich begrüßten, spürte Wallander, dass er verlegen wurde, ohne dass er hätte sagen können, warum.
    »Die Kapelle liegt nicht weit entfernt«, sagte sie. »Es ist nur ein Fußweg von zehn Minuten. Ich rauche noch eine Zigarette. Sie können hier warten.«
    »Ich komme mit«, sagte Wallander. Sie standen in der Sonne vor dem Hotel, Lilja mit Sonnenbrille und einer brennenden Zigarette in der Hand.
    »Sie war betrunken«, sagte Lilja plötzlich.
    Es dauerte einen Moment, bis Wallander begriff, was sie meinte. »Baiba?«
    »Sie war betrunken, als sie starb. Das hat die Obduktion ergeben. Sie hatte viel Alkohol im Blut, als sie von der Straße abkam.«
    »Es fällt mir schwer, das zu glauben.«
    »Mir auch. Alle ihre Freunde verstehen es nicht. Aber was weiß man schon darüber, wie ein todkranker Mensch denkt?«
    »Meinen Sie, dass sie sich das Leben genommen hat? Dass sie es bewusst getan hat? Gegen diese Mauer gefahren ist?«
    »Es führt zu nichts, wenn wir darüber nachgrübeln, denn wir werden es nie mit Bestimmtheit wissen. Aber es gab keine Bremsspuren. Ein Fahrer, der hinter ihr war, hat ausgesagt, dass sie zwar nicht besonders schnell gefahren sei, aber in Schlangenlinien.«
    Wallander versuchte, das Ganze vor sich zu sehen, die letzten Augenblicke in Baibas Leben. Er sah ein, dass er nicht sicher sein konnte, ob es ein Unfall oder Selbstmord gewesen war. Plötzlich ging ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf. Konnte auch Louise von Enkes Tod ein Unglücksfall gewesen sein? Kein Mord oder Selbstmord?
    Er verfolgte den Gedanken nicht weiter, weil Lilja ihre Zigarette ausdrückte und gehen wollte. Wallander entschuldigte sich, ging zur Toilette in der Rezeption und trank nocheinen Schluck Wodka. Er betrachtete sich im Spiegel. Er sah einen Mann, der alt zu werden begann und von Unruhe erfüllt war vor dem, was

Weitere Kostenlose Bücher