Wallander 09 - Der Feind im Schatten
sich persönlich oder seinen Ruf zu schonen. Natürlich wusste er, dass Hans in Mitleidenschaft gezogen werden würde. Aber daran war nichts zu ändern. Am Ende war es eine Frage der Ehre. Mit ihrem Verschwinden war er mundtot gemacht. Seine Angst wuchs. Nach einigen der Telefongespräche, die ich mit ihm führte, machte ich mir Sorgen. Es schien beinahe so, als litte er unter Verfolgungswahn. Seine einzige Erklärung dafür, dass Louise verschwand, war die, dass es ihr irgendwie gelungen war, seine Gedanken zu lesen. Er hatte Angst, sie könnte herausfinden, wo er sich aufhielt.Wenn nicht sie selbst, dann ihr Auftraggeber im russischen Nachrichtendienst. Håkan war überzeugt, dass Louise immer noch sehr wichtig war. Sie würden nicht zögern, ihn zu töten, um sie zu halten. Auch wenn sie inzwischen zu alt war, um aktiv Spionage zu betreiben, so war es doch wichtig, dass sie nicht enttarnt wurde. Die Russen wollten natürlich nicht, dass bekannt wurde, was sie wussten. Oder nicht wussten.«
»Was dachtest du, als du von ihrem Selbstmord erfuhrst?«
»Daran habe ich nie geglaubt. Für mich war klar, dass sie getötet worden war.«
»Warum?«
»Ich antworte mit einer Gegenfrage. Warum hätte sie Selbstmord begehen sollen?«
»Vielleicht hatten Schuldgefühle sie überwältigt? Vielleicht war ihr klargeworden, welche Qualen sie ihrem Mann bereitet hatte? Es gibt viele denkbare Gründe. Bei meiner Arbeit als Polizist habe ich viele Beispiele dafür erlebt, dass sich Menschen aus wesentlich weniger schwerwiegenden Gründen das Leben genommen haben.«
Talboth dachte einen Moment über Wallanders Worte nach. »Das kann natürlich stimmen. Aber ich habe dir nicht alles gesagt, was mein Bild von Louise ausmacht. Ich kannte sie. Auch wenn sie große Teile ihrer Persönlichkeit verbarg, lernte ich sie gut kennen. Sie war kein Mensch, der Selbstmord begeht.«
»Warum glaubst du das?«
»Es gibt Menschen, die begehen nicht Selbstmord. Das ist einfach so.«
Wallander schüttelte den Kopf. »Meine Erfahrung ist eine andere. Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch unter bestimmten unglücklichen Umständen sich umbringen kann.«
»Ich will dir nicht widersprechen. Du kannst meine Meinungauslegen, wie du willst. Und ich bin überzeugt davon, dass deine polizeiliche Erfahrung von Gewicht ist. Aber man kann vielleicht nicht völlig von den Erfahrungen absehen, die man sich durch die lebenslange Arbeit in den amerikanischen Nachrichtendiensten erwirbt.«
»Wir wissen inzwischen, dass sie ermordet wurde. Wir wissen auch, dass in ihrer Handtasche nachrichtendienstliches Material gefunden wurde.«
Talboth hatte das Wasserglas gehoben. Er zog die Stirn in Falten und stellte das Glas zurück, ohne getrunken zu haben. Wallander bemerkte plötzlich eine geschärfte Wachsamkeit bei ihm.
»Das wusste ich nicht. Dass man nachrichtendienstliches Material beschlagnahmt hat.«
»Es war auch nicht vorgesehen, dass du es erfährst. Ich dürfte es dir gar nicht erzählen. Aber ich tue es um Håkans willen. Ich gehe davon aus, dass es unter uns bleibt.«
»Ich sage niemandem etwas davon. Das lernt man beim Nachrichtendienst. An dem Tag, an dem man aufhört, darf nichts mehr da sein. Man leert sein Gedächtnis, wie andere ihre Schränke oder Schreibtische leeren.«
»Was würdest du sagen, wenn ich dir verrate, dass Louise vermutlich mit Substanzen vergiftet wurde, die seinerzeit von der DDR eingesetzt wurden? Um Hinrichtungen zu vertuschen und sie wie Selbstmorde aussehen zu lassen.«
Talboth nickte langsam. Wieder hob er das Glas mit Eiswasser. Diesmal trank er. »Das kommt auch bei der CIA vor«, sagte er. »Wir waren natürlich auch oft gezwungen, Menschen zu liquidieren. Und zwar so, dass alle an Selbstmord glaubten.«
Wallander war nicht verwundert über Talboths Zurückhaltung in Bezug auf alles, was nicht mit Håkan oder Louise von Enke zu tun hatte. Aber er war entschlossen, so viel wie möglich aus ihm herauszuholen. »Wir gehen also davon aus, dass Louise ermordet wurde«, sagte er.
»Kann der schwedische Sicherheitsdienst sie liquidiert haben?«
»So geht das in Schweden nicht zu. Es gibt außerdem keinen Grund, zu glauben, dass sie enttarnt war. Uns fehlt mit anderen Worten ein Täter mit einem glaubwürdigen Motiv.«
Talboth verrückte seinen Korbstuhl, um im Schatten zu sitzen. Eine Weile schwieg er und kaute auf der Unterlippe. »Man könnte fast glauben, dass es sich um ein Eifersuchtsdrama handelt«, sagte er
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