Wallander 09 - Der Feind im Schatten
plötzlich.
Er hatte sich mit einem Ruck im Stuhl aufgesetzt. »In Schweden zu arbeiten war natürlich nie das Gleiche, wie hinter dem Eisernen Vorhang eingesetzt zu werden, solange der noch existierte«, fuhr er fort. »Wer dort enttarnt wurde, dem drohte fast immer die Hinrichtung. Es sei denn, er war so wichtig, dass er zu einem Tauschhandel gebraucht werden konnte. Ein Verräter gegen einen anderen. Spione werden manchmal von mentaler Unschärfe befallen, wenn sie zu lange im Feld tätig gewesen sind, ständig darauf eingestellt, dass ihre Identität aufgedeckt wird. Der Druck wird zu stark. Deshalb kommt es vor, dass Spione sich gegeneinander wenden. Die Gewalt kehrt sich nach innen. Der Erfolg des einen wird zu groß. Es entsteht Eifersucht, Konkurrenz tritt an die Stelle von Zusammenarbeit und Loyalität. In Louises Fall wäre das tatsächlich denkbar. Aus einem ganz speziellen Grund.«
Jetzt war es an Wallander, seinen Stuhl in den Schatten zu rücken. Er beugte sich vor und griff nach seinem Wasserglas. Das Eis war geschmolzen.
»Wie Håkan erzählt hat, sind Gerüchte über einen schwedischen Spion schon lange im Umlauf gewesen«, sagte Talboth. »Die CIA war genau darüber informiert. Als ich an unserer Botschaft in Stockholm arbeitete, haben wir dieser Frage große Aufmerksamkeit gewidmet. Dass jemand schwedische Militärgeheimnisse an die Russen verkaufte,war für uns und die Nato ein Problem. Schwedens Waffenindustrie hatte mit ihren technischen Innovationen einen Spitzenplatz inne. Wir erörterten den Spionageverdacht regelmäßig mit unseren schwedischen Kollegen. Aber auch mit Kollegen unter anderem aus England, Frankreich und Norwegen. Wir hatten es mit einem außerordentlich raffinierten Agenten zu tun. Uns war auch klar, dass auf schwedischer Seite ein Zwischenträger existieren musste, ein Lieferant . Jemand, der den Agenten mit Informationen versorgte, der sie seinerseits an die Russen weitergab. Wir wunderten uns darüber, dass wir, oder richtiger gesagt unsere schwedischen Kollegen, nie irgendwelche Spuren fanden. Die Schweden hatten eine short list von zwanzig Namen, sämtlich Offiziere in verschiedenen Waffengattungen. Aber die schwedischen Ermittler blieben erfolglos, und wir konnten ihnen nicht helfen. Es war, als jagten wir ein Phantom. Irgendein heller Kopf kam auf die Idee, die Person, die wir suchten, Diana zu nennen. Wie Supermans Amazonenprinzessin. Ich fand das auch deshalb idiotisch, weil nichts darauf hindeutete, dass eine Frau in die Sache verwickelt war. Aber später sollte sich zeigen, dass der Vergleich jenes Schlaukopfs hellseherisch gewesen war. So war auf jeden Fall die Lage bis zum März 1987. Bis zum achten März, um genau zu sein. An jenem Tag geschah etwas, was die gesamte Situation auf einen Schlag veränderte, eine Reihe schwedischer Offiziere des Nachrichtendienstes in die Kälte schickte und uns alle neue Gedanken denken ließ. Davon hat Håkan nichts erzählt, glaube ich?«
»Nein.«
»Es begann am frühen Morgen auf dem Amsterdamer Flughafen Schipool. Plötzlich stand ein Mann vor der Tür der Flughafenpolizei. Er trug einen sackartigen Anzug und ein weißes Hemd mit Schlips. In einer Hand hielt er einen kleinen Koffer, in der anderen einen Hut, über dem Arm lag ein Mantel. Er machte wohl den Eindruck, aus einer anderenZeit zu stammen, vielleicht aus einem Schwarzweißfilm mit düsterer Hintergrundmusik. Er geriet an einen Polizisten, der eigentlich viel zu jung für seine Aufgabe war. Aber es war Grippezeit, der junge Polizist hatte einspringen müssen, und jetzt stand ein Mann vor ihm, der in schlechtem Englisch um politisches Asyl in den Niederlanden ersuchte. Er zeigte einen russischen Pass, in dem sein Name mit Oleg Linde angegeben war. Ein ungewöhnlicher russischer Name, könnte man meinen, doch er war korrekt. Der Mann war um die vierzig Jahre alt, hatte schütteres Haar und eine Narbe, die sich über einen Nasenflügel zog. Der junge Polizeibeamte, der noch nie zuvor einem Asyl suchenden Flüchtling aus dem Osten Auge in Auge gegenübergestanden hatte, zog einen älteren Kollegen hinzu, der sich des Falles annahm. Bevor dieser Polizeibeamte, ich glaube, sein Vorname war Geert, eine erste Frage stellen konnte, begann Oleg Linde zu reden. Ich habe die Verhöre so oft gelesen, dass ich glaube, das Wichtigste auswendig zu wissen. Er war Oberst der Spezialeinheit für Westspionage im KGB, und er bat um politisches Asyl, weil er sich nicht länger daran
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