Wallander 09 - Der Feind im Schatten
darauf?«
»Das ist nicht meine Idee. Es war eine von Håkans Theorien. Er hatte viele.«
Wallander überlegte, bevor er fortfuhr. Er sagte sich, dass er besser notiert hätte, was Sten Nordlander berichtete.
»Was geschah danach?«
»Was meinen Sie mit ›danach‹?« Sten Nordlander begann unwirsch zu werden. Aber ob das an Wallanders Fragen lag oder an der Sorge um den verschwundenen Freund, konnte Wallander nicht entscheiden.
»Håkan hat mir erzählt, dass er begonnen habe, Fragen zu stellen«, sagte er. »Er hat versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Fast alles war natürlich geheim. Ein Teil des Materials unterlag sogar einer verschärften Geheimhaltung, so dass es erst nach siebzig Jahren freigegeben wird. Das ist die längste Zeit, die etwas in Schweden der Geheimhaltung unterliegen kann. Normalerweise bleiben die Archivtüren vierzig Jahre lang verschlossen. Aber hier wurden also gewisse Dokumente für siebzig Jahre aus dem Verkehr gezogen. Selbst die nette Marie, die uns den Kaffee serviert, wird vor ihrem Tod kaum einen Blick in die Papiere werfen können.«
»Anderseits entstammt sie einem Geschlecht mit guten Genen«, wandte Wallander ein.
Sten Nordlander reagierte nicht.
»Håkan konnte hartnäckig sein, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte«, fuhr er fort. »Er fühlte sich verletzt, so wie die schwedischen Hoheitsgewässer verletzt waren. Jemand hatte Verrat geübt, schweren Verrat. Obwohl eine ganze Menge Journalisten sich den U-Booten widmeten, war Håkan nicht zufrieden. Er wollte es wirklich wissen. Er setzte seine Karriere dabei aufs Spiel.«
»Mit wem sprach er?«
Sten Nordlanders Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Mit allen. Er fragte alle. Vielleicht nicht den König, aber es fehlte nicht viel. Er drängte auf ein Gespräch mit dem Ministerpräsidenten, das ist auf jeden Fall sicher. Er rief Thage G. Peterson an, den alten, feinen Sozialdemokraten in der Staatskanzlei, und bat um einen Termin bei Palme. Peterson sagte, es gebe keinen freien Termin, aberHåkan ließ nicht locker. ›Holen Sie den zweiten Kalender heraus‹, sagte er. ›Den, auf dem dringende Besuche immer noch irgendwo eingeschoben werden.‹ Und er bekam tatsächlich einen Termin. Das war ein paar Tage vor Weihnachten 1983.«
»Hat er Ihnen davon erzählt?«
»Ich habe ihn begleitet.«
»Zu Palme?«
»Ich war an jenem Tag sein Chauffeur, könnte man sagen. Ich saß wartend draußen im Auto und sah, wie er in Uniform und dunklem Mantel durch die Tür des – gleich nach dem Schloss – Allerheiligsten im Lande eintrat. Der Besuch dauerte ungefähr dreißig Minuten. Nach zehn Minuten klopfte ein Parkwächter an die Scheibe und sagte, man dürfe dort nur Leute absetzen, aber nicht parken. Ich kurbelte die Scheibe herunter und erklärte ihm, dass ich auf eine Person wartete, die sich bei einem wichtigen Treffen mit dem Ministerpräsidenten befinde, und nicht die Absicht hätte, von dort wegzufahren. Danach ließ er mich in Ruhe. Als Håkan zurückkam, hatte er Schweißperlen auf der Stirn.«
Schweigend waren sie davongefahren.
»Wir fuhren hierher«, sagte Sten Nordlander. »Und wir saßen genau an diesem Tisch. Als wir aus dem Wagen stiegen, fing es an zu schneien. In dem Jahr bekamen wir weiße Weihnachten in Stockholm. Der Schnee blieb bis Silvester liegen. Dann spülte der Regen alles wieder weg.«
Marie kam wieder mit der Kaffeekanne vorbei. Diesmal ließen sie ihre Tassen auffüllen. Als Sten Nordlander ein Stück Zucker in den Mund nahm, bemerkte Wallander plötzlich, dass er ein Gebiss trug. Das verursachte ihm für einige Sekunden ein Unwohlsein. Vielleicht weil es ihn daran erinnerte, dass er selbst nur allzu nachlässig war mit seinen Zahnarztbesuchen.
Sten Nordlander zufolge hatte von Enke sehr detailliert über seine Begegnung mit Olof Palme berichtet. Er war gutempfangen worden, Palme hatte einige Fragen nach seiner militärischen Karriere gestellt und mit leichter Selbstironie seinen eigenen Status als Reserveoffizier erwähnt. Palme hatte von Enke aufmerksam zugehört. Und von Enke hatte kein Blatt vor den Mund genommen. Was die Loyalität gegenüber seinem Arbeitgeber, dem schwedischen Militär, anging, so hatte er dort im Büro des Ministerpräsidenten alle bestehenden Grenzen überschritten, meinte Sten Nordlander. Er hatte sich aus eigenem Antrieb an den Ministerpräsidenten des Landes gewandt und damit alle Brücken zwischen dem Oberbefehlshaber und seinem Stab
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