Wallander 09 - Der Feind im Schatten
habe. Ytterberg reinigte sich mit einem Brieföffner die Fingernägel. Auf dem Korridor ging jemand vorbei und pfiff. Zu seiner Verwunderung erkannte Wallander einen alten Schlager aus dem Krieg: »We’ll meet again …« »Don’t know where, don’t know when«. Er summte im Kopf die Melodie mit.
»Wie lange bleibst du in Stockholm?«, fragte Ytterberg.
»Ich fahre heute Nachmittag zurück.«
»Lass mir deine Telefonnummer hier, dann halte ich dich auf dem Laufenden.«
Ytterberg brachte ihn an die Tür zur Bergsgata. Wallander ging zum Kungsholms Torg, winkte ein Taxi heran und kehrte ins Hotel zurück. Nachdem er das Bitte-nicht-stören-Schild an die Tür gehängt hatte, legte er sich aufs Bett. In Gedanken kehrte er noch einmal zu dem Fest in Djursholm zurück. Es kam ihm vor, als zöge er die Schuhe aus und tastete sich auf Zehenspitzen vorwärts, um sich lautlos seiner eigenen Erinnerung an Håkan von Enkes Verhalten und das, was er gesagt hatte, zu nähern. Er drehte und wendete seine Erinnerungsbilder, um die Risse zu erkennen. Vielleicht hatte er sich gründlich geirrt? Was er als Angst gedeutet hatte, war gar keine? Der Gesichtsausdruck eines Menschen konnte in ganz unterschiedlicher Weise gelesen werden. Kurzsichtige Menschen, die blinzelten, konnten schnell mal als dreist oder verächtlich eingestuft werden. Sechs Tage war der Mann, dessen Spuren er zu folgen versuchte, schon verschwunden. Die Zeitgrenze war überschritten, innerhalb derer Menschen in den meisten Fällen wieder auftauchen. Oder zumindest ein Lebenszeichen von sich gaben. Bei Håkan von Enke nichts dergleichen.
Er ist nur verschwunden, sagte sich Wallander in seinem stummen Selbstgespräch. Er begibt sich auf einen Spaziergang und kommt nicht zurück. Sein Pass liegt zu Hause, erhat kein Geld bei sich, nicht einmal sein Handy. Dies Letzte war einer der Punkte, an denen Wallander gestutzt hatte, einer der verwirrendsten Begleitumstände. Das Handy war ein Rätsel, das einer Lösung bedurfte, einer Antwort. Natürlich konnte er es vergessen haben. Aber ausgerechnet an dem Morgen, an dem er verschwand? Es verstärkte die Glaubwürdigkeit der These, dass sein Verschwinden unfreiwillig war.
Wallander machte sich für die Rückreise nach Ystad fertig. Die Stunde vor der Abfahrt des Zuges nutzte er für das Mittagessen in einem nahe gelegenen Restaurant. Während der Fahrt löste er zwei Kreuzworträtsel; es ärgerte ihn, dass er immer ein paar Wörter nicht herausbekam. Doch die längste Zeit saß er da und grübelte. Um kurz nach neun Uhr war er wieder zu Hause. Als er Jussi holte, hätte der Hund ihn vor Freude über das Wiedersehen beinahe umgerissen.
Beim Betreten des Hauses merkte er, dass es komisch roch. Zusammen mit Jussi schnüffelte er sich durch zum Ablauf im Badezimmer. Er goss zwei Eimer Wasser hinein, ohne dass der Gestank nennenswert nachließ. Es lag wahrscheinlich an einer Verstopfung in einem der Rohre, die zur Sickergrube führten. Er schloss die Badezimmertür. Der Klempner, den er in den meisten Fällen zu Rate zog, war Quartalssäufer. Wallander hoffte, dass er gerade eine trockene Periode hatte.
Jarmo, so hieß der Klempner, war völlig nüchtern, als Wallander ihn am nächsten Morgen anrief. Der Geruch im Badezimmer war nicht verschwunden. Der Klempner traf eine Stunde später ein, und eine weitere Stunde später war es ihm gelungen, die Rohre zu reinigen. Der Gestank verschwand sofort. Wallander bezahlte ihn schwarz. Es war ihm unangenehm, aber Jarmo schrieb prinzipiell keine Rechnungen. Er war um die vierzig und hatte in der Gegend mehrere Kinder. Wallander hatte ihn vor einigen Jahreneinmal festgenommen, als er als Hehler angezeigt worden war. Man beschuldigte ihn, Waren zu verkaufen, die aus verschiedenen Werkzeugwagen gestohlen worden waren. Doch Jarmo war unschuldig gewesen, es hatte irgendwo ein Missverständnis gegeben. Dann hatte Wallander sein Haus gekauft, und Jarmo hatte sich stets um die störanfälligen Rohrleitungen gekümmert.
»Wie läuft es mit der Waffengeschichte?«, fragte Jarmo unbekümmert, als er seine Hunderter von Wallander bekommen und in eine dicke Brieftasche gestopft hatte.
»Ich warte noch auf Bescheid«, erwiderte Wallander, der darüber lieber nicht diskutieren wollte.
»So voll bin ich noch nie gewesen«, sagte Jarmo, »dass ich in der Kneipe eine Rohrzange vergessen hätte.«
Wallander blieb eine passende Antwort schuldig. Er winkte nur stumm, als Jarmo in seinem rostigen
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