Wallander 09 - Der Feind im Schatten
lag.
»Können Sie mich mit ihr allein lassen und draußen warten?«, bat Wallander.
Als Källberg gegangen war, blickte er sich rasch im Zimmer um. Warum steht ein Bücherregal im Zimmer eines Menschen, der blind und ohne Bewusstsein ist? Er trat einen Schritt näher ans Bett und betrachtete Signe. Sie hatte helles, kurz geschnittenes Haar und erinnerte an ihren Bruder Hans. Ihre Augen waren geöffnet, starrten aber leer vor sich hin. Sie atmete stoßweise, als bereitete ihr jeder Atemzug Schmerzen. Wallander spürte einen Kloß im Hals. Warum musste ein Mensch solche Qualen erleiden? Ein Dasein, das nicht die geringste Möglichkeit bot, sich auch nur der Illusion eines sinnerfüllten Lebens zu nähern? Er sah sie weiter an, aber sie schien sich seiner Gegenwart nicht bewusst zu sein. Die Zeit stand still. Er fühlte sich wie in einem absonderlichen Museum, wo er gezwungen war, einen eingemauerten Menschen anzusehen. Das Mädchen im Turm, dachte er. Eingemauert in sich selbst.
Er sah auf den Stuhl am Fenster. Dort saß Håkan von Enke immer, wenn er sie besuchte. Wallander trat ans Bücherregal und ging in die Hocke. Es waren Kinderbücher, Bilderbücher. Signe von Enke war am Beginn ihrer Entwicklung stehengeblieben, sie war noch immer ein Kind. Wallander ging sorgfältig das Regal durch, nahm Bücher heraus und untersuchte, ob etwas dahinter versteckt war.
Zwischen einigen Babar-Büchern entdeckte er, was er suchte. Diesmal kein Fotoalbum, das hatte er auch nicht erwartet. Was er eigentlich suchte, hätte er nicht sagen können. Aber etwas hatte in der Wohnung in der Grevgata gefehlt, davon war er überzeugt. Entweder war jemand dort gewesen und hatte Papiere aussortiert, oder Håkan von Enke hatte es selbst getan. Und wo hätte er in diesem Fall das Aussortierte verstecken können, wenn nicht in diesem Zimmer? Zwischen den Babar-Büchern, die Wallander und Linda selbst gelesen hatten, als sie Kinder waren, befand sich ein großer Ordner mit steifen schwarzen Mappen. Zwei dicke Gummibänder hielten sie zusammen. Wallander war sich nicht sicher, ob er sie hier im Zimmer öffnen sollte, entschied sich aber schnell dagegen, zog die Jacke aus und wickelte die Mappen darin ein. Signe lag weiter reglos mit offenen Augen da.
Wallander öffnete die Tür. Källberg stand da und stocherte mit dem Finger in einem viel zu trockenen Blumentopf.
»Es ist ein Jammer«, sagte Wallander. »Mir bricht der kalte Schweiß aus, wenn ich sie nur ansehe.«
Sie gingen zurück zur Anmeldung.
»Vor ein paar Jahren kam einmal eine junge Kunststudentin her«, sagte Källberg. »Ihr Bruder lebte hier. Er ist inzwischen gestorben. Sie fragte, ob sie die Patienten zeichnen dürfe. Sie war sehr gut, sie hatte Zeichnungen mitgebracht, um zu zeigen, was sie konnte. Ich war absolut dafür, es ihr zu erlauben, aber im Vorstand war man der Meinung, dass es die Integrität der Patienten verletzen könnte.«
»Was geschieht, wenn Patienten sterben?«
»Die meisten haben eine Familie. Aber hin und wieder wird jemand in aller Stille ohne Angehörige begraben. Dann gehen so viele von uns mit wie möglich. Das Personal hier wechselt nicht so oft. Wir werden sozusagen die neue Familie der Patienten.«
Nachdem er sich verabschiedet hatte, fuhr Wallandernach Mariefred und aß in einer Pizzeria. Nach dem Essen ging er mit seiner Kaffeetasse nach draußen und setzte sich an einen der Tische auf dem Bürgersteig. Eine Gewitterfront türmte sich am Horizont auf. Vor einem kleineren Kaufhaus in der Nähe stand ein Mann und spielte Ziehharmonika. Er spielte zum Gotterbarmen falsch, er war ein Bettler, kein Straßenmusikant. Als die Musik unerträglich wurde, trank Wallander seinen Kaffee aus und kehrte nach Stockholm zurück. Er betrat in dem Moment die Wohnung in der Grevgata, als das Telefon klingelte. Die Töne hallten verloren durch die verlassenen Räume. Niemand sprach eine Nachricht auf den Anrufbeantworter. Wallander hörte die früheren Nachrichten ab. Ein Zahnarzt und eine Schneiderin. Beim Zahnarzt hatte Louise einen früheren Termin bekommen, weil ein anderer Patient abgesagt hatte. Aber von wann war die Nachricht? Wallander notierte sich den Namen: Sköldin. Die Schneiderin sagte nur, dass das Kostüm fertig sei, nannte aber keinen Namen und keinen Zeitpunkt.
Plötzlich begann es über Stockholm zu regnen. Ein Wolkenbruch. Wallander trat ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Er fühlte sich wie ein Eindringling. Aber das
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